Samstag, 5. Januar 2013

DIE BEDEUTUNG RODINS, - Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke 4. Dezember 1875 in Prag --  29. Dezember 1926  
 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz
DIE BEDEUTUNG RODINS,
Auf dem weiten Weg, den Rainer Maria Rilke von der nächtlichen spontanen Niederschrift der „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph von Rilke“ bis zu der Vollendung der „Duineser Elegien“ und der „Sonette an Orpheus“ abgeschritten hat, ist die Stufe vom „Stundenbuch“ zu „Neue Gedichte“ eine Bezeichnende und mit Bewusstsein Erklommene.
  
Ein Doppelerlebnis führe eine einschneidende Wandlung in Rilkes Schaffen herbei – es heisst „Paris“ und „Rodin“.
Paris bestimmte den Themawechsel, den Stimmungswechsel. Vom weiten Gotteserlebnis seiner zwei Russlandreisen (1899 und 1900), besonders der zweiten, vom einfachen Leben der Bauern klingt das Stundenbuch.  Russland  offenbarte Rilke die Gemeinschaft der Menschen und ihre Gemeinschaft mit Gott in der grossen äusseren Einsamkeit.
Paris hingegen brachte ihm die innere, schwer zu ertragende Einsamkeit im Gewühle der Grossstadt.  Die Wirkung des Hässlichen, des Kranken, von Leiden und Tod, die ihn hier auf Schritt und Tritt zu umdrängen und verfolgen schienen, trieben ihn eine schwere seelische Kriese, die er in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ verarbeitet hat. Dass er selbst in dieser Krise nicht scheiterte, (obwohl er seinen ersten Aufenthalt nach ein paar Monaten wegen körperlicher seelischer Erschöpfung abbrechen musste), dass er über seinen Helden Malte hinauswuchs (ähnlich wie Goethe das Krankhafte seiner Sturm und Drang Zeit im „Werther“ aus sich herausarbeitete), daran steht das Hauptverdienst jenem anderen mächtigen Einfluss zu dem Bildhauer Auguste Rodin.
Die Begegnung mit Rodin war kein Zufallsereignis. Und der Auftrag der Kunstgesellschaft, eine Monographie des Meisters zu schreiben, war nur der willkommene Anlass, sich einen Herzenswunsch zu erfüllen, Anlass, sich in das Werk Rodins zu vertiefen und seine persönliche Bekanntschaft zu suchen. Rückblickend äusserte er sich in einem Brief an seine Frau Clara Rilke-Westhoff folgendermassen darüber:
„In mir war schon damals, als ich Dich fand, ein so starker, einfach schreiender Instinkt nach ihm, ein so grosses, nicht zu beschwichtigendes Gefühl um seine Wichtigkeit, Dass wir einmal ein Buch von ihm machen müssen, das habe ich Dir damals gesagt.“
(April 1903,  Zitiert von Ursula Emde, in Rilke und Rodin, Lohn Verlag)
An Rodin selbst schreib er am 1. Aug. 1902, vor seinen Eintreffen in Paris, vom Meister wie von einem Magneten angezogen:

„Toute ma vie s’est changee des our je sais, oue vous etes mon maitre, et oue le jour, ou je vous verrai est un (et peut-etre le plus heueux) de mes joure.“
„…car en cherchant un maitre puissant ils (die jungen zur Kunst Berufenen) ne cherchent ni paroles, ni renseignements; ils demandent un exemple, un coeur ardent, des mains qui font grandeut.
C’est vous, qu’ils demandent.“ *
*(Rilke, Briefe aus den Jahren 1902-1906, herausgeg. Ruth Sieber, Leipzig, 1929, )
Denn der junge Dichter hatte in seinem Leben einen toten Punkt erreicht, eben in jener Zeit, da er ausserlich alle seine Hoffnungen erfüllt sah (1901/1902). Im Kreise der jungen Künstler in Worpswede erfuhr er zum ersten Mal das Glück, „den Empfangensten“ gegenüber „Gebenster“ sein zu können. In gegenseitigem Geben und Nehmen, dann in der Ehe mit der Bildhauerin Clara Westhoff glaubte er, endlich den wahren Boden, Heimat für seine Künstlerische Entwicklung gefunden zu haben.
Nur zu bald stellte sich diese Zuversicht als Illusion heraus. Immer unausweichlicher fühlte er sich zu einer schweren Entscheidung gedrängt.
Es galt zu wählen, Glück oder Kunst, Gemeinschaft oder Einsamkeit, das Leben oder die Sendung. Für ihn liessen sich die beiden Teile
Zitiert von Ursula Emde, in Rilke und Rodin, Verlag des Kunstgeschichtlichen Seminars Marburg, 1949)
Rilke, Briefe aus den Jahren 1902 bis 1906, herausgegeben von Ruth Sieber – Rilke und Carl Sieber (Leipzig: Insel Verlag, 1929)
Nicht vereinigen, sei es von seiner Auffassung der Natur der Dinge her gesehen, sei es, dass er sich nicht die Kraft zutraute, beide zu erfüllen. In der quälenden Schwebe zwischen zwei einander ausschliessenden Lebensformen tauchte der französische Bildhauer wie ein möglicher fester Grund in Blickfeld des Ratlosen auf. Dabei suchte Rilke nicht einen Lehrmeister für seine Dichtkunst, sondern einen Führer, das Vorbild eines Künstlerlebens. Er fragte: „Comment faut-il vivre?“ (Briefe, p.41.)
Denn er erkannte, dass Rodin die Kunst und die Einsamkeit gewählt hatte.
Das Leben jedoch, dem dieser scheinbar vorbeiging, erstand, mit Dauer begabt, in seinen Schöpfungen, wurde – um mit Rilkes eigenen späteren Worten zu sprechen – „in Inneres verwandelt“, dem Steine anvertraut.
Das Lebensrezept, das der damals 62 jährige Bildhauer dem jungen Dichter gab, war prosaisch und bündig: „ll faut travailler, rien que travailler, Et il faut avoir patience
Er sah in dem handwerklichen Gut-Machen die Grundlage alles künstlerischen Schaffens, während er der Inspiration, von der seine Werke Leben, sowenig bewusst zu sein schien, wie der Luft, die er atmete.
(Briefe von Clara Rilke-Westhoff vom 5. Sep. 1902 )
Rilke griff die neue Idee hoffnungsfroh und lernbegierig auf:
Er schrieb an Rodin, kurz nach seiner Ankunft in Paris (11. Sep. 1902)
"Ce n'est pas seulement pour faire une etude que je suis venu...
o! etait pour veus demander: comment faut-il vivre? Et vous m'avez repondu:
  
en travaillant. Et je le comprends bien, je sens que travailler c'est vivre sans mourir... depuis ma premiere jeunesse je ne voulais que cela.  Et je I'ai essaye. Mais mon travail,  parce que je l'aimais tant, est devenu pendant ces annees une chose solennelle, une fete attachee a des inspirations rares; et il y avait des semaines ou je ne faisais rien u  attendre avec des tristesses infinies I'heure  creatrice..."
So anvertraute sich Rilke gläubig der Führung seines  "cher maitre", wie er Rodin zu nennen pflegte.
“Sein Selbstbildnis aus dem Jahre 1906“,  (in neue Gedichte) wo der 31 jährige sich als noch Unfertiger sieht, lehrt uns begreifen, wieso der noch Jüngere in seiner existentiellen Krise so ganz in die Abhängigkeit eines Gereiften sich flüchtete. Nebst dem Kindlichen und Unfertigen war er sich seiner hohen Anlagen und Möglichkeiten zwar bewusst, aber sie erscheinen ihm noch zerstreut und zwecklos, noch nicht zu einer wirkungsfähigen Persönlichkeit gerundet, noch nicht zum gültigen und tragenden Instrument seiner Berufung herangereift. 


Des alten lange adligen Geschlechtes
Feststehendes im Augenbogenbau.
Im Blicke noch der Kindheit Angst und Blau
Und Demut da und dort, nicht eines Knechtes,
doch eines Dienenden und einer Frau.
Der Mund als Mund gemacht, gross und genau,
nicht überredend, aber ein Gerechtes
Aussagendes.  Die Stirne ohne Schlechtes
und gern im Schatten stiller Niederschau.
Das,  als Zusammenhang,  erst nur geahnt;
noch nie im Leiden oder im Gelingen
Zusammengefasst zu dauerndem Durchdringen,
doch so, als wäre mit zerstreuten Dingen
von fern ein Ernstes, Wirkliches geplant. 
Rodin, der seinem jungen Freunde vor allem durch sein überwältigendes Beispiel des  “toujours travailler“ voranging, liess es nicht unterwegen, ihm auch praktische Hinweise zu geben. So bedeutete er ihm eines Tages, dass er noch nicht zu sehen verstehe, und riet ihm an, in den Jardin des Plantes zu gehen, um die Pflanzen und Tiere dort zu beobachten.  Rilke gehorchte, schärfte sein Auge, schulte seine Beobachtung und Konzentration. 
Die Gedichte „“Der Panther“ und  “Die Gezelle“ (neue Gedichte) sind eine direkte Frucht dieser Tierstudien, in der Tat  “neue Gedichte“ verglichen mit dem früher Erzeugten, die bezeugen, dass Rilke diese Übungen nicht wie ein gewissenhafter Schüler seine Hausaufgaben ausführte, sondern dass sie ihm zum Eigensten Erlebnis geworden waren. Indem er sich dazu hingab, seinen Gegenstand ganz zu durchdringen, wurde er auch von ihm durchdrungen; er musste sich im Anschauen als Panter fühlen, um die ewige Parade der “tausend Stäbe“ zu ermessen, hinter denen es keine Welt mehr zu geben scheint.
Aber auch sprachlich tritt eine neue Meisterschaft zutage, die des präzisen, gefügten Ausdruckes. Wenn schon, nach Rodin, die Kunst auf das Handwerk gegründet ist, dann muss für den Dichter die Sprache das Werkzeug sein, das er zuerst vollkommen zu führen imstande sein muss, so ähnlich schrieb Rilke in einem an Lou Andreas Salome:

"Liegt das Handwerk vielleicht in der Sprache selbst, in einem besseren Erkennen ihres inneren Lebens und Wollens, ihrer Entwicklung und Vergangenheit?
(Das grosse Grimmsche Wörterbuch, das ich einmal in Paris sah, brachte mich auf diese Möglichkeit.) Liegt es in einem bestimmten Studium, in der genaueren Kenntnis einer Sache?"   (Brief vom 10 Aug. 1903, Briefe,)
Obschon hier nur die Möglichkeit gewiesen wird und noch ein Fragezeichen hinter die ganze Idee gesetzt wird, hat sie Rilke doch selbst durch die Tat bejaht. Er fing wirklich an, sich mit Grimms Wörterbuch zu beschäftigen, bemüht, seinen Wortschatz zu erweitern und zu verfeinern, indem er jedes Wortes genaue Bedeutungen abwägend  festlegte. Die Bibliotheque Nationale war ihm ein Lieblingsaufenthalt, wo er viel Zeit mit Lesen zubrachte.
Mit den beiden Schulungsmitteln, Natur und Sprache, bereitete er sich ein Ausdruck auf eine handwerkliche Grundlage, gelöst von der früheren spontanen Zufälligkeit. Dies musste dem so weitgehend aus seinen Gefühlen lebenden Dichter als ein erhebliches Opfer vorkommen, ja als Verleugnung eines wesentlichen Zuges seines bisherigen Schaffens, des genialen Verströmens in Versen unter einem momentanen Eindruck, Einer Stimmung – wie wir es im Stundenbuch finden. Aber mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit einer inneren Forderung gegenüber leistete er dieses Opfer.
Dem Beispiel seines Meisters rückhaltlos ergeben, beherzigte er auch den letzten Teil der rodinschen Lebensformel, die lautete:
“Man muss Geduld haben“. Auch darin war er willig, seine Leben zu ändern. Diesbezüglich finden wir in (Briefe an einen jungen Dichter“ 1903-08), worin Rilke seine unter Rodin gewonnene junge Lebensweisheit ausschreibt, folgende Stelle: 

"Lassen Sie Ihren Urteilen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung, die, wie jeder Fortschritt, tief aus innen kommen muss und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann. Alles ist austragen und dann gebären...Geduld ist alles!
Ich möchte Sie bitten, Geduld haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuche, die Fragen selbst liebzuhaben."
Rilke glaubte wirklich, dass er dasselbe von seiner zarten Konstitution und delikaten Empfindsamkeit verlangen könne, was er den zähen, ausdauernden, männlich wuchtigen Bildhauer leisten sah.
Und er glaubte wie dieser, dass an den Dichter die glichen Forderungen wie an den Plastiker ergehen müssen, uneingedenk des gänzlich anders gearteten Schaffensvorganges, dem er konkrete, handwerkliche Stimulus von Stein und Werkzeug fehlt. So schrieb er in dem bereits zitierten Brief an Leu: 

"Arbeiten muss ich lernen, arbeiten, das fehlt mir so!  Il Faut toujours travaillé - toujours, sagte er mir einmal, als ich ihm von den bangen Abgründen sprach, die zwischen meinen guten Tagen aufgetan sind; …darum tut es mir so furchtbar not, das Werkzeug meiner Kunst  zu finden, den Hammer, meinen Hammer, dass er Herr werde und wachse über alle Geräusche.  Es muss ein Handwerk stehen, auch unter dieser Kunst; eine treue tägliche Arbeit, die alles verwendet, muss doch auch hier möglich sein! Irgendwie muss auch ich dazu kommen, DINGE ZU MACHEN,  nicht plastische, geschriebene Dinge – WIRKLICHKEITEN, die aus dem Handwerk hervorgehen…
(Seite 118-119 , Briefe an eine jungen Dichter, Leipzig – 1929)
Dieses ernstliche Ringen um das Jederzeit –Arbeiten können, um das beobachtete Detail und den genauen Ausdruck hat nicht nur die neue dichterische  Qualität in  “Neue Gedichte“  als Frucht gezeitigt, sondern es hat sich in der täglich erneuten Forderung den seelischen Angriffen der  „“ “bangen Stadt“ als positives Abwehrmittel entgegengestellt.
Wer weiss, ob nicht ohne diese bedingungslose Gefolgschaft, die wir in ihrer Absolutheit und freiwilligen Erniedrigung missbilligen könnten, der innerlich so sehr Gefärdete damals seiner eigenen Malte-Krise erlegen wäre?
Anderseits hat sich der Glaube Rilkes an das Vorbild seines Freundes nicht auf dessen Arbeitsethos beschränkt. Dies war vielmehr die Frucht seiner Jüngerschaft. Was ihn ursprünglich von den nunmehr ab  “einseitig und bescheiden“  gesehenen Künstlern in Worpswede weg und zu Rodin gezogen hatte, war  “der Strahl der Ewigkeit“ (wie sich Rilke damals noch in der inspirierten Stimmung des Stundenbuches ausdrückte), der ihn aus den rodinschen Werken getroffen:
"Notre art est tel (je l'ai senti depuis longtemps) qu'il sait donner du pain et de l'or  aux peintres,  aux poetes,  aux sculpteures, a tous les artistes (qui vont leur chemin de douleur ne desirant) autre chose que ce rayon d'eternite qui est le but supreme de la vie creante."  (1. Aug. 1902)
Diesen ausschliesslich vom Gefühl getragenen Enthusiasmus finden wir nach dem ersten Pariser Aufenthalt zu einer mehr wesentlichen Beurteilung gewandelt.
Aus Bremen schreibt Rilke im Aug. 1903, dass er Rodin folgen müsse  “nicht meinem bildhauerischen Umgestalten seines Schaffens, aber in der inneren Anordnung des Künstlerischen Prozesses; nicht bilden müsse er lernen von ihm, aber tiefes Gesameltsein um des Bildes willen.“  (An Lou, Briefe, p. 118)
damit gab er zu verstehen, dass es ihm um mehr ging als um ein Formprinzip. Dieses ist Aeusseres, dem ein Inneres entsprechen muss, von Rilke als  “tiefes Gesammeltsein“ ausgedrückt.
Stärker, männlicher formuliert findet sich derselbe Gedanke in dem Wort von Emerson, das Rilke seinem Rodin Buch (1903) voranstellt:
“The here is he who is IMMOVABLY CENTERED“ 
(GES. Werke, Leipzig: Insel Verlag, 1927, Ba. Iv.p.298.)

“Centered sagt mehr als Gesammeltsein“; es verlangt die Sammlung auf eine innerste unverrückbare Mitte. In der Stabilität, der Ruhe und der Einsamkeit Rodins sah Rilke denn auch den eigentlichen Grund seiner Grösse.
Was sich in Rilkes Dichtung vom Stundenbuch zu den Neuen Gedichten vollzogen hat, ist als ein “Wandel vom musikalischen zum plastischen Schaffen“ bezeichnet worden. Hier ist es die Lust am Klang, dort der bewusste Formwillen, hier das Sich-Auflösen und Hinfliessen in einer Vision, einer seelischen Bewegung, dort das Binden, Fügen und Zusammenfassen von Eindrücken und Gedanken, hier da sich Verschenken an den schöpferischen Augenblick, dort das Mühen um ein dauernd Gültiges.
Das Stundenbuch ist eine dreiteilige Sammlung von Gedichten, deren erste zwei Teile sich von den zwei Russlandreisen nähren:
“Das Buch vom mönchischen Leben“ 1899 und „“Das Buch von der Pilgerschaft“ 1901, während der dritte Teil, „“Das Buch von der Armut und vom Tode“ 1903 die schweren Eindrücke der Gross stadt wiedergibt.
„“Das Buch vom mönchischen Leben“ eignet sich besonders zu einer Gegenüberstellung mit den „“Neuen Gedichte“, weil es aus dem ersten unmittelbaren Erfasst werden von jener mystischen Gemeinschaftsbeziehung Natur-Mensch-Gott aufgeblüht ist.
Wenn es auch im „Buch von der Pilgerschaft“ heisst:

¨Ich bin derselbe noch, der kniete
Vor dir in mönchischem Gewand…¨
(Sämtliche Werke , Frankfurt, a.m. Inselverlag, Zweigstelle Wiesbaden, 1955, Bd. I,p.307)
Ja, wenn sogar Verse wie
¨Du bist der Alte, dem die Haare
Von Russ versengt sind und verbrannt…¨
Auffallend mit den „“mönchischen“ Akkorden zusammenklingen, so ist es doch im Ganzen ein Nacherleben, das der Gewalt des ersten Offenbarungsgefühles nicht gleichkommt, diesem Gefühl der Befreiung von der Angst und Einsamkeit des Kindseins und den Seelischen Spannungen der Studienzeit. Das Erlebnis verinnerlicht sich, verästelt sich in geistliche Bilder; Zweifel und Rechtfertigung weisen zum Teil bereits weg vom immanenten Gefühl hinüber ins Reingeistige. Die Problematik des Alltags zuhause drängt sich unversehens mit ein.
Dem Inhalt gemäss glättet sich auch die Form etwas gegenüber dem unerhörten Höhenflug beseelten Klanges im  “mönchischen Leben“. 
Bild: Wikipedia (Rainer Maria Rilke)

DAS STUNDENBUCH 
Stilistische Untersuchung der Gedichte:
Was „Die Weise von Liebe und Tod..“ (1899) zum bekanntesten und geliebtesten Stück in Rilkes Werk gemacht hat, trifft weitgehendst auch auf das Stundenbuch zu, besonders den ersten Teil, (auf den ich mich von nun an der Kürze halber als „Stundenbuch“ beziehe): Es ist die unverbindliche Inspiration, die sich auf den Flügeln eines unvergleichlichen klanglichen und rhythmischen Zaubers dem Leser mitteilt. Er berauscht sich am Rausch des Dichters, dem der „Cornet“ in einer einzigen Nacht aus der Feder geflossen ist, der „Die Geschichten vom lieben Gott“ (1900) in sieben aufeinanderfolgenden Nächten aus sich herausgeschrieben hat. 

Das Buch vom mönchischen Leben selbst ist vom 20. Sept. bis zum 14. Okt. 1899 entstanden, fünfundsechzig Gedichte in weniger als einem Monat. Rilke selbst sagte vom Stundenbuch, es sei ein einziges Gedicht, und zu Katharina Kippenberg: „Ich hätte endlos ähnliche Verse weiterdichten können.“ (emde, p.79.) 
Im „Malte finden wir ergänzend: „Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), - es sind Erfahrungen.“ 
(Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Leipzig, Insel Verlag, 1927 u. ges. Werke, Bd.p. 25.)
In den ersten zwei Gedichten des „mönchischen Lebens“ finden wir die Situation und Schaffensweise des Dichters und wahrscheinlich auch einen Fingerzeig zur Deutung des Titels „Stundenbuch“. Ist nicht in Wirklichkeit das Stundenbuch das Buch aller der Stunden, die sich zum Dichter „geneigt“ haben? Diese Gedichte sind nicht als auf einer Willensanstrengung beruhende Leistung gesehen. Sie haben den spontanen, Charakter von Gebeten, Meditationen und Zwiegesprächen mit Gott eines (sehr unorthodoxen!) Mönches.


Der Dichter wird von der Stunde angerührt; sie macht seine Sinne erzittern, und er fühlt „ich kann und ich fasse…“  Seinen reifen Blicken ist die Schöpfung anheimgestellt, durch sie erst ist alles geworden. Seine alles umfassende Liebe erhebt das Kleine und Unscheinbare, malt es auf Goldgrund.“

Ein schwingender, stark betonter Rhythmus, von lauter steigenden Versfüssen (Jamben und Anapästen) angetrieben, führt in abwechselnden Drei–und Vier–Heber–Versen diese Gedanken Welle heran. Die dynamische Kraft, die vor allem in den Anapästen liegt, und die sich in der letzten Strophe häufenden, weiterdrängenden „und“ erzeugen die Bewegung des Hingetriebenwerdens. Es sind nicht zuerst die Gedanken, die Gestalt suchen, sondern es ist das Glück der schöpferischen Stunde, das sich in Bewegung und Klang ergiesst und die Gedanken als leichte Fracht mitbefördert. Ursula Emde zitiert Schiller, der Klopstock einen musikalischen Dichter genannt hat:

“Ich sage musikalischen, um hier an die doppelte Verwandtschaft der Poesie mit der Tonkunst und der bildenden Kunst zu erinnern. Je nachdem nämlich die Poesie entweder einen bestimmten G e g e n s t a n d nachahmt, wie die bildenden Künste tun, oder je nachdem, wie die Tonkunst, bloss einen bestimmten Zustand des Gemüts hervorbringt, ohne dazu eines bestimmten Gegenstandes nötig zu haben, kann sie bildend (plastisch) oder musikalisch genannt werden.“
U. Emde fügt hinzu: “In diesem Sinne ist der frühe Rilke ein musikalischer Dichter. Es geht seiner Kunst nicht um die Darstellung eines einheitlichen, abgerundeten Bildes, sondern um die Erzeugung einer Stimmung. Lange Bilderfolgen ohne klar ersichtlichen örtlichen, zeitlichen, oder logischen Zusammenhang hindern die Herausbildung einer einheitlichen Gesamtvorstellung.“ (Emde, p. 78) 
(1)
Du entfernst dich von mir, du Stunde
Wunden schlägt mir dein Flügelschla
Allein! was soll ich mit meinem Munde?
Mit meiner Nacht? Mit meinem Tag?
Ich habe keine Geliebte, kein Haus,
keine Stelle, auf der ich lebe.
Alle Dinge, an die ich mich gehe,
werden reich und geben mich aus.

Weitgehend findet sich das in Gedicht (1) bestätigt. Die erzeugte Stimmung ist ein eben erstehendes Daseinsgefühl, begabt mit Schöpferkraft und einem liebenden Allbegreifen, das von ferne an Schiller “Ode an die Freude“ erinnert. Und gemahnt  nicht der Rhythmus von

“und ich fasse den plastischen Tag“
An den reissenden Fluss einer schillerschen Ballade?:
“und es brauset und wallet und siedet und zischt
 Wie wenn Feuer mit Wasser sich mengt“

Nur dass dort der Klangdynamik die Spannung einer beherrschenden Handlung resp. Beschreibung entspricht, während es sich hier um Lyrik handelt, deren symbolische Bilder frei aus dem innern Erleben gegriffen werden. Umso selbstherrlicher wirkt die gewählte Form.Die Motive zwar, die wie zufällig hereingetragen sind, kündigen Grundthemen des ganzen Stundenbuches an, die auch im späteren Werk mit erstaunlicher Treue festgehalten, abgewandelt, entwickelt werden.Da ist die schon erwähnte Stunde, die die Gnade des Schaffens birgt. Dieses Schaffensprinzip des mehr zum Erleiden als zur Tat bestimmten Dichters wurde unter Rodins Einfluss in dem Ringen um das Immer–Arbeiten–Können vorübergehend verleugnet, brach dann aber im Spätwerk als Rilkes ureigenste Schaffensweise wieder hervor, auf einer höhen Ebene, durch Leiden geläutert. 
Bild: Google, Rainer Maria Rilke
In der zweiten Strophe tönt sich der Ideenkreis der vom “sehenden“ Menschen zu schaffenden Schöpfung an, deren Mitte und Inhalt in der nächsten Folge die “reifende Gottheit“ sein wird. Aber gleich geht es weiter zum “Ding“, das, in der letzten Strophe durch die Liebe erfasst, mit steigender Begeisterung verherrlich wird.
Abklingend wird zum Schluss das soziale Element in dem „“Wem“ angerührt. Mit dem unbestimmten „“weiss nicht“ ist, ganz leicht erst, die Frage des sich Mitteilens ans Du, gesehen als Zweckbestimmung des dichterischen Schaffens, angetupft. Es scheint wie träumerische Zuversicht einer künftigen Bestätigung, getragen von der Sehnsucht nach der menschlichen Gemeinschaft, die auch in der gegenwärtigen fruchtbaren Einsamkeit und mystischen Beziehung zu Welt und Dasein nicht ganz besiegt ist.
Diese so sacht angetönte Frage wird sehr bald schmerzlich akut werden und Rilke ein wiederholtes Nein abringen:
bereits hat er sich den Worpswedes Freunden entzogen, bald wird er sich seiner jungen Ehe entreissen; nur unter dem Schmerz des Enttäuschtwerdens wird er sich etappenweise von der absoluten Bindung an seinen “Meister“ Rodin,  entwöhnen.  Und indem er endlich die alleinschöpferische Einsamkeit wählt wird er sich für den Rest seiner Tage wieder und wieder fluchtartig den ihn umgarnenden Banden der Freundschaft entwinden.
Zuletzt wird im Doppelklang von “löst“ und “los“ das rilkesche Thema des (sich) “loslassen“ berührt, das sich in den Neuen Gedichten dem sich vordrängenden Todesmotiv verbindet (z.B. in “Der Schwan“)


Alle diese Motive erscheinen hier noch plan –und zusammenhangslos; sie scheinen als Grundakkorde in der Tiefe der Seele zu schlummern –und die Welle der befreiten Lebensempfindung stört sie auf und bringt sie, wie zur eigenen Überraschung, zum Klingen. Nur vom vollendeten Werk rückschliessend lässt sich das hier stimmungshaft Versuchte als Anklänge von Grundthemen erkennen. Im Moment ist es für Dichter selbst mehr erahnt als verstanden, jedenfalls noch in keiner Weise begründet. So findet denn der zweite Teil des früher  zitierten  “Selbstbildnis“  auch auf die Bilderwelt des Stundenbuches Anwendung: Sie ist noch nicht “zusammengefasst zu dauerndem Durchdringen“; obwohl “von fern ein Ernstes, Wirkliches geplant“ ist, erscheinen die Teile noch durchaus als “zerstreute Dinge“.


Typisch für diese Schaffensetappe ist dabei, wie das Vague der noch angeläuteten Begriffe mit der Kraft eines Absoluten und mit den Farben des konkreten Bildes angetan erscheint. Das zweimalige  “Nichts“, an exponierte Stelle am Strophenanfang gesetzt und den steigenden Rhythmus durch eine Anfangshebung unterbrechend, umgehen in unbesorgter Absolutheit jede nähere Bezeichnung, geschweige Wesensumschreibung des auftauchenden Begriffes.


Das erste “Nichts“, das ohne den Schöpferakt des Künstlers noch nicht –Seiende, entpuppt sich später als “Natur“  (z.B. als Umriss eines Baumes vor dem Abendhimmel), im Stundenbuch aber hauptsächlich als “Gott“ (“Wir bauen an dir mit zitternden Händen“ – “Gott reift“). Gott, das Ding der Dinge, kann auch in den ersten, wenn auch noch so unverbindlichen Gebrauch des Wortes “Ding“ zurückprojiziert werden.
Das zweite  “Nichts“ scheint sich vor allen mit dem „“Ding“ zu befassen, wenn es sich auch, inkonsequenterweise, eher auf ein schon Bestehendes zu beziehen scheint; denn das unter dem “reifen Blick“ kommende, das soeben, als Braut gesehen, mit Würde und Hingabe ausgezeichnet wurde, kann ja schwerlich gemeint sein mit dem kleinen, das man “trotzdem“ liebt.


Schon hier zeigt es sich, wie man mit Begriffsanalysen nicht weiterkommt, sondern sich in fruchtloser Wortklauberei verstrickt.
Jede dieser Aussagen besteht für sich selbst, ohne seinen bindenden  Bezug zu der nächsten. Bild um Bild wird mit einem kraftvollen Schwung hervorgebracht, genial und selbstherrlich, dem Augenblick entsprungen und nur ihm verantwortlich. Eine Stimmung, ein Lebensgefühl teilt sich mit; es werden keine Dauerwerte gesucht oder Begriffe erhärtet.
Diese visionäre Weltschau, die sich so gläubig-selig auf den Flügeln des Wohllautes hinbewegt, hat noch nicht gelernt, “in sich zurückzukehren“. Erst als sie, unbeschützt, von der brutalen Realität der Großstadt angefallen und angefressen wird, werden ihre Schwächen offenbar. Im Stundenbuch aber gilt es vorerst, die Flügel der Seele in einem sich weitenden Weiltraum zu versuchen, ihn auszumessen; erst in dem späteren notwendigen, d.h. aus der Not wachsenden Schaffen wird er in “Weltinnerraum“ verwandelt werden.


Das Sprunghafte und Willkürliche der Vorstellungen im Stundenbuch ist nun zwar bezeichnend, aber nicht allgemein gültig. Es finden sich alle Stufen vertreten, von der Vision, die von Wort zu Wort in jagender Bilderfülle wechselnd umspringt, -was Ursula Emde als “lange Bilderfolgen ohne klar ersichtlichen örtlichen, zeitlichen oder logischen Zusammenhang“ bezeichnet und als Beispiel dafür zitiert:


“Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit,
der Tau, die Morgenmette und die Maid,
der fremde Mann, die Mutter und der Tod.“
(Das Stundenbuch von der Pilgerschaft in Sämtliche Werke, Inselverlag, 1955, Bd. I. p. 326/27)


Bis zu der durchgeführten Inneren Schau, die sich auf ein ganzes Gedicht ausdehnt, wie wir es schon in (2) vor uns haben. Bevor ich aber zu diesem “Ganzbild“ übergehe, werde ich, nochmals zu (1) zurückkehrend, das Schauend-Willkürliche, wie es bereits in der Behandlung der Motive zum Ausdruck gekommen ist, nun auch in den Stilmitteln zu zeigen versuchen. Dabei lässt sich manches Typische, einschliesslich die Gefahren und Mängel den Stundenbuchstiles aufzeigen.


Die ersten vier Zeilen des Eingangsgedichtes im Stundenbuch führen uns zunächst einen Höhepunkt dichterischen Ausdrucks vor Augen. Die Idee der segnenden Stunde ist durch die ganze erste Strophe entwickelt, d.h. sie ist bis zu ihrer vollen Auswirkung am Dichter geführt.


Proben aus dem STUNDENBUCH  I

(1) Da neigt sich die Stunde und führt mich an
      mit klarem, metallenem Schlag:
      mir zittern die Sinne.  Ich fühle: ich kann –
      und ich fasse den plastischen Tag.
      Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
      ein jedes Werden stand still
      Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
      Kommt jedem das Ding, das er will


      Nichts ist mir zu klein,  und ich lieb es trotzdem
      Und mal es auf Goldgrund und gross
      Und halte es hoch, und weiss nicht wem
      Löst es die Seele los…


(2) Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
      die sich über die Dinge ziehn
      Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
      aber versuchen will ich ihn.


       Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
       und ich kreise jahrtausendelang;
       und ich weiss noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
       oder ein grosser Gesang.


(3) Wir bauen an dir mit zitternden Händen,
      und wir türmen Atom auf Atom.
      Aber wer kann dich vollenden,
      du Dom.


      Was ist Rom?
       Es zerfällt.
       Was ist die Welt?
       Sie wird zerschlagen,
       eh deine Türme Kuppeln tragen,
       eh aus Meilen von Mosaik
       deine strahlende Stirne stieg.
       Aber manchmal im Traum
       kann ich deinen Raum
       überschaun
       tief vom Beginne
       bis zu des Daches goldenem Grate.
       Und ich seh: meine Sinne
       bilden und baun
       Die letzten Zierate.


(4) Gemalt hätt ich dich:
      als Samnaun, wachsend aus Wüstensand -
      oder
      es kann auch sein:  ich fand
      dich einmal..
      Meine Freunde sind weit,
      ich höre kaum noch ihr Lachen schallen;
………………………

  1. Nr.1

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