Donnerstag, 24. Januar 2013

Omar Chajjam im modernen Iran (Bozorg Alavi)

Es gibt wenige Werke der Weltliteratur, die so berühmt und allgemein anerkannt sind wie die Sinnsprüche Chajjams.  Kaum eine Kultursprache kennen wir, in die die Vierzeiler nicht wenigstens einmal, meistens aber öfter, übersetzt wurden. In England und in Amerika waren sie zu Beginn unseres Jahrhunderts sogar eine Modedichtung. Von der Beliebtheit der Gedichte Chajjams in den deutschsprachigen Ländern zeugen die verschiedenen Ausgaben, die in den Nachkriegsjahren in der Deutschen Demokratischen Republik, in Westdeutschland und in der Schweiz erschienen sind. – Angesichts dieser Popularität ist in der europäischen Wissenschaft vielfach der Gedanke geäussert worden, dass des Dichters Ruhm hauptsächlich den mannigfaltigen Veröffentlichungen seiner Vierzeiler in Europa zu verdanken und dass in Iran erst unter dem Einfluss der europäischen Kultur das Interesse für diese Dichtung wieder erwacht sei.

Wir wissen, dass Chajjam zu seinen Lebzeiten als Gelehrter und Astronom hohes Ansehen genoss, während seiner Poesie wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. War es vielleicht deswegen, weil der prominente Wissenschafter aus politischen und religiösen Gründen nicht die Möglichkeit hatte, seine intimsten Gedanken und Gefühle über die Probleme zu äussern, die seine Welt beschäftigten, und daher seine Vierzeiler nur im Kreise der engsten Freunde vorlas, die sie mündlich unter Gesinnungsgenosse verbreiteten? Wie dem auch sei, uns sind aus dem Jahrhundert seines Todes nur wenige Vierzeiler bekannt. Je weiter wir uns zeitlich von ihm entfernen, wächst ihre Zahl, und heute schreibt man ihm – wenn man nicht kritisch scheidet – etwa eintausendfünfhundert Rubais zu. Wahrscheinlich gehen auf ihn aber nur zweihundertfünfzig oder noch weniger zurück, alle anderen mögen von Dichtern stammen, die aus Gründen der politischen und sozialen Unfreiheit ihre Stimme gegen den allmächtigen Obskurantismus nicht laut werden lassen durften.

Mancher Freigeist unterschob dem eifrig gelesenen, aber doch selten erwähnten Ketzer Chajjam seine eigenen atheistischen, materialistischen Vierzeiler, um sich vor den Verfolgungen der „Gläubigen“ zu schützen. Man setzte sogar, wie es in der iranischen Poesie üblich ist, im letzten Vers das Wort Chajjam ein, um sich hinter dem grossen Namen zu verschanzen. Später ergriffen auch die Gegner diese gefürchtete Waffe und dichteten Vierzeiler gegen „Chajjams“ kühne Gedanken.

Erst in der neuesten Zeit, als die Kolonialpolitik der beiden benachbarten  Grossmächte, des Zarenreiches und des britischen Imperiums, die Existenz des iranischen Staates bedrohte und freiheitliche und demokratische Ideen aus Europa in unser Land eindrangen – was zum Ausbruch der bürgerlichen Revolution von 1905 bis 1911 führte -, wagte man, Chajjams Werke in regelmässigen Abständen zu veröffentlichen, das Publikum mit Abhandlungen und Meinungen europäischer Wissenschaftler über Werk und Leben des grossen Gelehrten und Dichters bekannt zu machen und eigene Untersuchungen zu den wissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten und zu den Dichtungen anzustellen. In dieser Hinsicht ist der Beitrag der europäischen Kultur zur Wiedergeburt und Verbreitung Chajjamscher Ansichten in seiner Heimat von Wichtigkeit. Doch war nach dem Verzeichnis der gedruckten persischen Bücher die erste Ausgabe Chajjamscher Vierzeiler schon im Jahre 1867 erschienen, die nach meiner Auffassung auf keinen europäischen Anstoss zurückzuführen ist.

Der Dichter Chajjam gehört zu den bedeutendsten Erscheinungen der iranischen Kultur, auf die sich der heutige Patriotismus stützt.

Das nationale Selbstbewusstsein der Iraner, das die Imperialisten mit den Errungenschaften der europäischen Technik und Zivilisation zu korrumpieren trachten, wird durch die pflege des kulturellen Erbes gestärkt, die sich die Intelligenz als besondere Aufgabe gestellt hat. Die Intelligenz des heutigen Irans schätzt Chajjam wegen seines gewichtigen Beitrages zur Entwicklung der nationalen Philosophie. Schon im 7. Jahrhundert, im Gefolge der islamischen Eroberung Irans, begann auf dem Gebiet des theoretischen Denkens ein Kampf um realistische Positionen, um eine Erklärung der Welt mit Hilfe der Wissenschaft jener Zeit, die im Widerspruch zur Offenbarung und zum religiösen Dogmatismus stand. Ihre Vertreter verteidigten das Prinzip der freien Erwägung und Schlussfolgerung. So bekannten sich die Mutaziliten (die Abtrünnigen) als Anhänger der griechischen Philosophie zu religiöser Toleranz, was die orthodoxen Theologen als „Ketzerei“ und „Atheismus“ anprangerten. Die Gedanken Chajjams mussten wie Peitschenhiebe gegen den theologischen Obskurantismus gewirkt haben. Mit scharfer Ironie prangerte er die Ignoranten an, bestritt die Unsterblichkeit der Seele und verwarf den Gedanken des Jüngsten Gerichts. „Seine Zeitgenossen verleumdeten ihn“, schrieb ein mittelalterlicher Historiker, „und zweifelten an seiner Religion und seinem Glauben, dass ihn Entsetzen packte und er zu reden und schreiben aufhörte. Er verliess die Stadt Nischapur, um nach Mekka zu pilgern. „Mit seiner materialistischen Ansicht, dass der Mensch Staub sei und zu Staub werde, knüpfte er an die vorislamische Lebensauffassung der Zervanisten an, der Anhänger der Theorie von der unendlichen Zeit und vom Kampf der Widersprüche in der Ursubstanz selbst. Chajjam verdanken wir die Kontinuität und die Tradierung wertvoller Elemente des Kulturerbes. Die Verherrlichung sagenhafter Gestalten und Begebenheiten, in denen die Iraner jener Zeit Zeugen ihrer Geschichte sahen, und die Bewahrung von Sitten und Gebräuchen der Vergangenheit (wie Nowroz) zeigen, dass Chajjam bewusst zur Verteidigung der iranischen Kultur gegen den Islam beigetragen hat. Im Zeitalter der politischen Unterdrückung durch den Imperialismus und der Befreiung vieler Völker vom kolonialen Joch werden Chajjams Bestrebungen und Verdienste um die Erhaltung des Nationalgefühls sehr  hoch eingeschätzt.

Fast alle modernen Dichter Irans haben Vierzeiler verfasst. In den unruhigen Zeiten der Revolution und Kriegsjahre entstanden Vierzeiler, die meist tagespolitischen Ereignissen gewidmet waren. Zum Beispiel druckte Forughi seine Vierzeiler als tägliche Losung in seiner revolutionären Zeitung ab. Sie zeugen von kämpferischen Mut, doch spürt man zuweilen einen melancholischen Unterton heraus, der deutlich an Chajjam erinnert.

Auch in der Prosa spiegelt sich Chajjamsches Denken noch heute sichtbar wider. Zwei Schriftsteller haben sich in der Thematik von dem alten Philosophen beeinflussen lassen. Dschamalsades Roman Ma sume aus Schiras, der 1954 in Teheran erschien, ist eine Paraphrase des Vierzeilers: 

Zur Dirne sprach ein alter Scheich: „Du trunknes Weib!
Du bietest hier und morgen dort feil deinen Leib!“
 Von Irans grössten modernen Schriftsteller, Sadek Hedajat, wurde Chajjam als der hervorragendste Vertreter des aufbegehrenden Geistes unseres unterjochten Volkes gefeiert. Mit seinem Werken hat er sich oft beschäftigt: er hat seine Vierzeiler herausgegeben, in seinem Vorwort sind einige neue Gedanken über Chajjams Wirken enthalten, vor allem Hinweise, wie er den Dichterphilosophen verstanden hat, der in der Skepsis und im Pessimismus sein Gesinnungsgenosse gewesen ist. Hedajat sieht in ihm hauptsächlich den Leidensgenossen, den gequälten Künstler auf der Suche nach Gerechtigkeit, Wahrheit und Schönheit, der sich verzehrt. So schreibt er im Vorwort: „Die Philosophie Chajjams wird nie ihre Frische verlieren, denn diese äusserlich kleinen, aber inhaltsschweren Vierzeiler beziehen sich auf alle wichtigen, dunklen Probleme, die den Menschen im Laufe der Zeiten in die Irre geführt haben, sie handeln von den Gedanken, die sich ihm aufdrängen, und von den Geheimnissen, die ungelöst geblieben sind. Seine Schreie sind der Widerhall der Schmerzen, Sorgen, Angstgefühle, Hoffnungen und Verzweiflungen von Millionen, denen religiöser Fanatismus grausam zusätzte. In seinen Vierzeilern versucht Chajjam mit wunderbarer Sprache und eigenartigem Stil, diese Schwierigkeiten, Rätsel und Geheimnisse freimütig zu lösen.“

In Hedajats Roman Die blinde Eule begegnen wir Überlegungen, die Chajjam Vorstellungen mit Leichtigkeit wiedererkennen lassen. Hier folgt ein verstörter Träumer seiner unheimlichen Laufbahn durch zwei Verkörperungen, zwischen denen Jahrhunderte liegen, und diese Wiederkehr, die qualvolle Wiederholung des Strebens nach dem Ideal inmitten Verkommenheit und Verfall bietet Parallelen bis in die Wahl der Bilder und des Ausdrucks hinein. Zum Verständnis der Blinden Eule muss Chajjam-Kenntnis vorausgesetzt werden – und sie kann es dank ihrer grossen Verbreitung: das Auffinden eines Krugs aus Rai beim Grab Ausheben (wobei die versunkene Vergangenheit als die für die Gegenwart bedeutungsvolle Tote ans Licht tritt, denn auf diesem Krug ist das Bildnis eingraviert, das der Träumer sein Leben lang, der Tradition verhaftet, immer wieder malt) ist ein Motiv, das sich mit der Idee vom Vergehen und Wiederaufnehmen deckt. (Vergleiche die Töpfer-Vierzeiler.) Und dieser Beispiele, Anspielungen und Bilder gibt es viele. – Allerdings ist der Pessimismus Hedajats  trägt auffallend individuelle und krankhafte Züge. Hingegen drückt Chajjams Skepsis die einem Philosophen zukommende verantwortungsbewusste Warnung der Menschen vor Ignoranz, eitler Hoffnung und Dogmatikertrug aus.

Er war Rebell gegen die Feudalordnung, Ketzer gegen den Dogmatismus, Philosoph inmitten der Leiden und Nöte seiner Mitmenschen und mitfühlender Dichter, der seinen Gedanken wunderbare Gestalt zu geben vermochte. Als Humanist und Kämpfer wird er im fortschrittlichen Iran verstanden und geehrt.

OMAR CHAJJAM

DURCHBLÄTTERT IN DES LEBENS BUCH

Bozorg Alavi / 1962 Berlin

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