Sonntag, 17. August 2014

Zürichs Geschichte - Dr. Konrad Farner

 
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweit siegte im Siebenjährigen Krieg:
Wer siegte ausser ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegeschmaus?
Alle zehn Jahre ein grosser Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.

Bertolt Brecht
Aus: "Fragen eines lesenden Arbeiters"
Zürich, das ist die Stadt am Schnittpunkt wichtiger Verkehrsadern von Westen nach Osten, von Süden nach Norden, die Stadt an einem wichtigen Verkehrswege, des Zürichsees mit der Limmat, mit den Zugängen von den Bündner Pässen und dem Gotthard und den Abgängen nach dem Rhein und dem Jura. Bereits als römisches Kastell bekannt, wächst es im Laufe des frühen Mittelalters über eine Klostersiedlung hinaus; im Jahre 929 wird es bereits in einer Urkunde als Stadt bezeichnet, und im gleichen Jahrhundert erhält es Stadtmauern. Mit dem Aussterben des Zähringer-Geschlechts, das die Reichsvogtei innehatte, erhält es die Reichsunmittelbarkeit, und um die Mitte des 13. Jahrhunderts kennt die Stadt bereits einen Kleinen und Grossen Rat: Regenten sind Ritter und vermögende Kaufleute, die sich in der Gesellschaft zur „Constaffel“ finden. Den Handwerkern aber ist es verboten, sich frei in Korporationen oder Zünften zu organisieren: im Jahre des ersten eidgenössischen Bundesbriefes, 1291 erlebte das erste Bündnis der Stadt mit den Rebellen am Vierwaldstättersee, mit Uri und Schwyz: es ist ein Defensivvertrag zur Abwehr feudaler Machtgelüste. Aber das Haus Habsburg hat den züricherischen Handel in der Hand: es kontrolliert die Verkehrswege und somit die Lebensadern der Stadt – das Bündnis dauert keine zwölf Monate, und Zürich kämpft bei Morgarten auf der Seite der Österreicher. Zudem: die zürcherischen Ritter fühlen sich wohler bei ihren Standesgenossen als bei den klobigen Bauern.
Es sind jedoch nicht mehr die Ritter, die Geschichte machen, im zürcherischen Massstab nicht und nicht im europäischen. Bereits im 11. Und 12. Jahrhundert gärt es in den italienischen Städten, im 13. Und 14. Jahrhundert in den deutschen wie in den französischen oder flandrischen.
Die wirtschaftlichen Kräfte verschieben sich: was der feudale Grundbesitz der Ritter und Geistlichen an Gewicht verliert, gewinnen der städtische Handel und das städtische Handwerk – der Klassenkampf geht in grosser Brutalität überall vor sich.
Auch in Zürich 1336 vollzieht sich der Umsturz, zwar nur als Halbheit, aber doch als wichtige Änderung. Die Einwohnerschaft ist dreigeteilt: Ritter, Kaufleute, Handwerker – die Ritter verlieren an Boden, die Kaufleute gewinnen, und die Handwerker sind rechtlos. Im Zuge der Zeit läge es, wenn die Kaufmannschaft die Herrschaft gänzlich an sich risse: was ist die politische Folge?
Der weitblickende Teil der Ritterschaft als retardierendes Element verbindet sich mit den Handwerkern als revolutionäres Element gegen die herrschende Mitte, und Früher beider ist der Junker Rudolf Brun. Sein gewagtes Doppelspiel gelingt und führt zwangsläufig zur persönlichen Herrschaft: Brun regiert als unumschränkter Bürgermeister auf Lebenszeit – anstelle der alten feudalistischen Ordnung der Ritter als Reaktion und anstelle der erstrebten Zunftdemokratie der Handwerker als Revolution steht ein Diktator, kühn, verschlagen, machtbesessen, hinterhältig und weitblickend. Jede oppositionelle Regung wird durch Verbannung oder Hinrichtung geahndet, und allen Bürgern wird untersagt, auch als Freunde oder Verwandte in höherer Zahl als drei zusammenzukommen.
Die vertriebenen Junker sammeln sich auf den umliegenden Burgen des Adels, in der Hauptsache zu Rapperswil, aber die Verschwörung, die als Zürcher Mordnacht in die Chronik eingeht, schlägt fehl: allein 37 an der Zahl lässt Brun vor ihren eigenen Häusern enthaupten oder aufs Rad flechten, damit der Anblick des zu Tode gepeinigten Vaters oder Sohnes ähnliche Auflehnung in Zukunft unterbinde.
Kein Wunder, dass Brun wegen Rapperswil mit Österreich in Konflikt gerät, kein Wunder, dass der Bürgermeister versucht, ins reine zu kommen.
Aber die Verhandlungen scheitern am gegenseitigen abgrundtiefen Misstrauen, und Brun sieht sich gezwungen, nach andern aussenpolitischen Sicherungen umzusehen – denn er muss seine Innenpolitik untermauern. Nur die Waldstätte kommen noch in Betracht, und weder Freundschaft noch Hochachtung ist es, die zum Bündnis führt, es ist die Sicherung der Herrschaft und die Abwehr des Feudaladels, die Zürichs Eintritt in den eidgenössischen Bund bewerkstelligen. Und so ist es kein Zufall, dass die Bundesurkunde vom 1. Mai 1351 in charakteristischer Weise in den wesentlichen Punkten gleichlautet wie der Vertragsentwurf mit Österreich, der nicht verwirklicht werden konnte.
Jeder der beiden Partner ist sich bewusst, dass trotz aller schönen Worte dieses Bündnis vorerst eine Sache nur des Tages ist, denn allzu stark sind die ökonomischen und wirtschaftspolitischen Gegebenheiten und viele verschieden: der Handelsweg über den Gotthard ist der Konkurrent des Handelsweges über den Septimer, jetzt und später, einmal und vielmal. Trotzdem: die Rebellen der Waldstätte verpflichten sich, Bruns Regiment zu sanktionieren und den Diktator gegen jeden Umsturzversuch zu schützen – die Eidgenossen übernehmen die Garantie der Brunschen Stadtverfassung und versprechen ihre Hilfe nur schon, wenn der Bürgermeister allein für seine Person sie anruft.
Dieses Bündnis wird als ewiges Bündnis beschworen.
Als jedoch am 20. September des gleichen Jahres Herzog Albrecht mit Macht die Stadt belagert, ist die Ewigkeit bereits vorbei: jetzt bietet Brun Albrecht das Bündnis an und anerkennt sogar die österreichischen Hoheitsrechte in den Waldstätten. Im Jahre 1355 schliesst er einen Separatfrieden, ohne die Parteien zu benachrichtigen, ja, er verpflichtet sich, die Ansprüche der Habsburger in den Waldstätten voll und ganz zu unterstützen.
Kurz darauf ist der zürcherische Bürgermeister bereits Pensionenempfänger aus Österreichs Kasse und „Geheimer Rat“ am Hofe. Am 17. September 1360 stirbt er, zusammen mit seinem Koch; alles spricht dafür, dass er durch Gift umgebracht worden ist.
Die Söhne gleichen dem Vater: Raubüberfall und Erbschaftsstreit mit Verwandtenmord, das ist der persönliche Nachlass dieses Bürgermeisters.
Dass der politische Nachlass nicht ähnlich aussieht, ist nicht die Schuld der Zürcher. Es sind die Waldstätte, die am Bündnis festhalten, allerdings nicht aus Altruismus und wegen Zürich allein, sondern es ist ihnen vor allem darum zu tun, gegenüber Österreich einen guten Wall aufzurichten, nachdem bereits Luzern eine wichtige Bastion darstellt. Im Grunde aber zielt ihre Politik nach dem Süden, und der Ring von West nach Ost, von Bern über Luzern nach Zürich, ist vorderhand bloss als Schutzmauer gedacht. Aber gerade diese Schutzmauer ermöglicht die kommende Eidgenossenschaft, und Zürich ist dabei wichtiger Teil. 
Das Bündnis Bruns, vorerst eine Tat engster Selbstsucht, erweitert sich zu einer Tat weitgreifender Geschichte: am 7. Oktober 1370 wird zwischen den Städten Zürich, Zug und Luzern und den Ländern der Waldstätte der sogenannte „Pfaffenbrief“ unterzeichnet. Er ist eine Übereinkunft rechtsstaatlicher Natur, die die Wahrung des einheimischen Gerichtsstandes gegenüber weltlichen und geistlichen Herren setzt, den Landesfrieden festigt und vor allem der Sicherheit der Handelsstrassen dient. Dieser "Paffenbrief" bedeutet keine Änderung der bestehenden gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse, im Gegenteil eine Sanktionierung. Die Pässe über die Alpen, der Gotthard und der Julier, der Septimer, der San Bernardino und der Splügen als Wege nach Como und Mailand und weiter nach den Häfen des Mittelmeers, werden abgesichert. Zum Handel der Eidgenossen mit ihren Produkten der Viehwirtschaft und der Leinwandmanufaktur gesellen sich einerseits die Waren aus dem deutschen Raum und anderseits diejenigen aus Spanien und Übersee: Kupfer und Barchent, Zinn und Blei, Wolltuch und Seide, Messing, Kupferdraht und Eisendraht, Wein und Safran, Reis und orientalische Spezereien…
Gleichwohl trägt diese Politik die Keime starker Zerwürfnisse in sich: Septimer und Gotthard sind verschiedene Wege mit gleichem Ziele; Stadt und Land, revolutionäre Handwerker und revolutionäre Bauern sind wohl beide Neuerer, aber nicht mit gleichen Zielen – der Gegensätze sind und bleiben viele. Zwar, weil beide Neuerer sind, erstarken beide: die Waldstätte festigen sich innen – und aussenpolitisch, die Handwerker Zürichs erweitern ihre politischen Rechte, besonders da die Nachfolger Bruns im Amt gewalttätig in die gleiche Kerbe hauen wie ihr Vorgänger. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird allmählich das Bürgermeisteramt seiner diktatorischen Macht entkleidet, die Constaffel wird durch die Zünfte weiter zurückgedrängt. Aber es sind gerade diese Zünfte, die wieder eine neue Herrschaft aufrichten und die damals üblichen demokratischen Spielregeln, wie sie Brun in seiner Verfassung verankert, dazu benützen, um ihre Macht vollends zu festigen.
Gleichzeitig werden durch Geldkauf neue herrschaftliche Rechte erworben: fast das ganze Seegebiet bis Wollereau und Pfäffikon, dann Regensberg und Bülach, Kyburg und Rümlang, Wald und Fischental, all das wird Untertanenland der Stadt und ihr pflichtig. Es ist dies eine Ankaufspolitik, die fast alle Städte auszeichnet und ebenfalls die Machtverschiebung von den Feudalen auf die Bürger deutlich zum Ausdruck bringt: die reichen „Pfeffersäcke“, wie die Adeligen die Kaufleute höhnische bezeichneten, kaufen die verarmten Ritter. Es ist dies für Zürich eine Politik, die im Grunde auch die Herrschaft seines Handels festigt: die Zugänge zu den Bündner Pässen und die Abgänge nach dem Rhein werden offengehalten.
Expansion und Eroberungspolitik treiben aber auch die verbündeten Orte: die Beherrschung der Alpenpässe, der Erwerb ertragreicher Untertanengebiete, die Sicherung und Abrundung der Grenzen, neue Weidegebiete, das sind die vier Zielsetzungen, die jetzt weitgehend verwirklich werden – die Eroberung der südlichen Zugänge, der ennetbirgischen Lande, und die Eroberung der nördlichen, der aargauischen Lande, sie beherrschen die kommende Zeit.
Die Auseinandersetzung ergreift nun die Verbündeten selbst, und die Realpolitik des Ortes Schwyz geht dabei so weit, dass dem Grafen von Toggenburg versprochen wird, keine Hilfe den um die Freiheit ringenden Appenzellern zu bringen.
Denn um nichts anderes geht es in diesen Jahren als um das grosse Erbe des letzten Toggenburgers, um den March und das Gasterland, wo sich beide Machtbestrebungen überschneiden: Zürich wie Schwyz betätigen sich als Erbschleicher, Zürich in der Person des ebenso aktiven wie gewalttätigen Bürgermeisters Rudolf Stüssi, Schwyz in der Person des ebenso aktiver wie gewalttätigen Landammans Ital Reding. Als im Frühjahr 1436 der Graf stirbt, marschieren beide Teile schnellstens los: Schwyz besetzt die March, Zürich verlangt das Gaster – die Bevölkerung dieser Gebiete wird überhaupt nicht befragt. Das angerufene eidgenössische Schiedsgericht spricht für Schwyz – Reding hat richtig gerechnet, denn die Länder fürchten die Vormachtstellung der Städte, und die Städte Bern und Luzern fürchten die Vormachtstellung Zürichs.
Noch weiter ist Reding der gute Rechner: die Witwe des Grafen wird mittels einer schwyzerischen Rente, die zuletzt die Mönche des Klosters Einsiedeln bezahlen müssen, abgefunden; das Geschäft ist perfekt, der Handelsweg nach Bünden ist abgeriegelt, der Gotthard wieder gerettet. Stüsse erwidert durch Marktsperre und schreitet zum Kriege; seine innenpolitischen Gegner, die für eine friedliche Regelung eintreten, wirft er in den Wellenberg. Die Niederlage ist gewiss: fast die ganze Seegegend wird durch die Eidgenossen grauenhaft verwüstet, die Einwohner werden massakriert.
Stüssi wiederholt nun Bruns Politik: er verbündet sich mit Österreich, und König Friedrich III. verspricht nichts Geringeres als eine „neue Eidgenossenschaft“ unter Zürichs Führung als habsburgisches Protektorat. Auf dem Rathaus wird die österreichische Fahne gehisst, und im Grossmünster wird eine Schwurfeier veranstaltet.  Der 22. Juli 1443 sieht die endgültige Niederlage bei St. Jakob an der Sihl, Stüssi wird getötet, und mit dem Leichnam wird grausames Spiel getrieben.
Was nachfolgt, das ist der barbarische Mord von Greifensee und die nicht weniger barbarische Schlacht bei St. Jakob an der Birs – der Barbareien sind unzählige. Erst der Frieden von Konstanz vom Jahre 1450 setzt diesem Treiben ein Ende: Zürich hat vieles verloren, Menschen, Gut und Habe, Ansehen und Macht sowie den Zugang zu den bündnerischen Pässen nach Italien. 
Nur allmählich erholt sich die Stadt, aber in wenigen Jahren sinkt die Bevölkerungszahl von 7000 auf 4000, der zehnte Teil der Häuser ist leer, und die Pest tut das übrige.
Aber dieses Zürich gebietet trotz der Niederlage über ein Untertanenland, das vom See bis an den Rhein reicht, von Thalwil bis Eglisau, von Kappel bis Stammheim. Und jede dieser zwanzig verschiedenen Herrschaften weist verschiedene überkommene Rechte und Ordnungen auf, ein Durcheinander, das jedoch einheitlich ist durch die alles überlagernde Ausbeutung. Die Regensberger, die von Affoltern und die von Grüningen, sie ersehnen wieder die Oberhoheit Österreichs, weil sie menschlicher gelebt hätten; die Kriegslasten werden der Landschaft dermassen rücksichtlos aufgebürdet, dass im Jahr 1468 Wädenswil und Richterswil zum Aufstand schreiten, der jedoch unterdrückt wird.
Auch in der Stadt nehmen die sozialen Spannungen zu, die völlig rechtlosen Gesellen revoltieren des öftern, und die Handwerker selbst werden infolge der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung durch die Kaufleute zurückgedrängt, der Handel tritt allmählich an die Stelle des Gewerbes; die siegreich verlaufenen Burgunderkriege bringen Geld und Beute, Gold und Pensionen; die eidgenössischen Krieger werden von den europäischen Fürsten umworben, sie werden vergoldet.
So sieht sich der Gewerbefleiss im Kleinen durch den Handel im Grossen immer mehr verdrängt, das Einzelhandwerk durch die allmählich aufkommende Manufaktur – ausländische Einflüsse machen sich technisch und ökonomisch bemerkbar.
Eine umfassende Wandlung vollzieht sich, die die mittelalterliche Eidgenossenschaft ablöst und die politisch – soziale Revolution der Bauern und Handwerker beendet – die Schwüre und die ersten Bünde sind vergessen. Vergessen ist der Kampf gegen die Vögte, wie man selber Vögte einsetzt; vergessen ist die Abschüttelung fremder Herrschaft; weil man selber fremde Herrschaft ausübt; vergessen ist die Losung eines freien Volk darnieder hält und Grund wie Boden für sich beansprucht; vergessen ist die Politik der Befreiung, weil man eine Politik der Macht treibt; vergessen ist der Fluch der Willkür, weil man selber Willkür ist.
Das Kriegen steht im Vordergrund: „Denn wir sind der kriegen gewendt, und wenn wir krieg schmeckendt, fröwen wir uns wie die ross, so si trummen oder trumeten gehörent“  - man ist dem Kriegen geradezu verschrieben, wie auch das Leben kriegerisch ist.
Ja, die Eidgenossen sind in ganz Europa zu Angst und Schrecken geworden, und nicht umsonst verfasst der bekannte Humanist und Historiker Jacob Wimpheling ein "Gebet zur Bekehrung der Schweizer": „Grösser scheint die Frömmigkeit bei den Türken und Böhmen zu sein als bei diesen starken, drohenden, grimmigen, stolzen, waffenliebenden, stets zum Kriege bereiten, von der Wiege auf zum Kampf erzogenen, an Christenblut sich weidenden und durch Zwietracht der Könige reichgewordenen Wilden, die keinen Fürsten, keine Gesetze ehren, die keine gesunde Vernunft walten lassen, sondern von einer gewissen Raserei in den Abgrund getrieben werden. Ihre Gesetze: Willkür, Begierde, Zorn, Ungestüm, Heftigkeit und Raserei.
Gib ihnen ein Herz von Fleisch, und nimm ihnen das Herz von Stein. Gib, dass sie wenigstens einiges Menschlichkeit unter den Waffen walten lassen.
Gib ihnen Frömmigkeit, damit sie die Feinde nicht sofort niederhauen, sondern diejenigen, die sich demütig ergeben, gefangennehmen.“
Krieg ist das Signum der Zeit, alles ist in Unruhe und Aufruhr begriffen, auch in den eidgenössischen Orten selber: das Land gegen die Stadt, in der Stadt die Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter und die Ausbeuter unter sich. Zum Klassenkampf gesellt sich der Kampf der Klassen-Fraktionen, der Kampf der verschiedenen Mächte.
Kein Zufall, dass sich die Herrschenden trotz innerer Gegensätze zusammenschliessen, denn es gilt, das Erreichte zu halten und zu festigen. Das Stanser Verkommnis vom 22. Dezember 1481 ist die rechtliche Zusammenfassung all dessen, was notwendig ist, ein Bündnis der Reaktion gegen die Revolution, gegen die Revolte, gegen die Aufruhr; es ist die Sanktionierung der Unfreiheit und der Herrschaft. Nicht anders lauten in der Hauptsache die Abmachungen, als dass jede Aufwiegelung von Untertanen, jede Volksdemonstration strikte verboten ist und dass die Herrschenden und Besitzenden sich verpflichten, sofort gemeinsam gegen revoltierende Besitzlose vorzugehen. Es ist dies eine Abmachung, die als einzige eidgenössische Abmachung dreihundert Jahre lang in Kraft ist und, das sei ebenfalls vermerkt, auch im 19. Jahrhundert wie im 20. Jahrhundert, also bis in unsere Tage hinein, Auferstehung feiert. Kein göttliches Wunder demnach, sondern ein sehr menschliches, dass der geistige Landesvater des Stanser Verkommnisses, Niklaus von Flüe, zum heiligen Landesvater wird.
Aber der Lauf der Geschichte ist nicht geradlinig, viele Bestrebungen überschneiden und durchkreuzen sich, oft verbinden sich gegensätzliche Partner, oft wirken sich revoltierende Kräfte hemmend aus und reaktionäre Kräfte progressiv.
Gerade die zürcherische Geschichte der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bietet die beste Illustration hinzu: die revolutionären Untertanen der Landschaft sind gegen die Stadt eingestellt, aber die Stadt stellt mit ihren Zentralisierungstendenzen das progressive Element dar; in der Stadt selbst wehren sich die Handwerker gegen die politisch stärker werdenden Kaufleute, die sich mit den reaktionären Junkern verbinden – die Herrschaft der Zünfte schrumpft zusammen zugunsten einer Herrschaft der Constaffel, und beide drängenden Elemente, die Landbevölkerung wie die Herren der Constaffel, verbinden sich gegen das Handwerk, dessen Führer der Oberzunftmeister Hans Waldmann ist. Als Führer der Zünfte rückwärtsschauend, als Führer der Stadt vorwärtsblickend, Gegner der ländlichen Untertanen und Gegner der Herren Constaffel, ist er der Zwiespalt in Person, und zudem in gewaltigem Ausmass:  mutig und rücksichtslos, machtgierig und politisch ausserordentlich begab, autokratisch und hochmütig, ein Verächter des ‚Volkes, ein Tyrann der Polis, nichts anderes als Brun und Stüssi in neuer Ausgabe, als Renaissance-Figur noch grösser und prunkvoller, reicher und gewalttätiger. Er ist der dritte Bürgermeister Zürichs, der die Geschicke der Stadt mit masslosem persönlichem Einsatz leitet und zugleich wesentlich in die gesamteidgenössische Politik eingreift. Der Diktatur Bruns folgte die Diktatur Stüssi und dieser folgt die Diktatur Waldmanns, alle drei als verschiedene Manifestationen der Zunft-Demokratie der Handwerker: die Diktatur als Mantel-Demokratie. Mit anderen Worten: unter dem Mantel der Demokratie verbirgt sich die Diktatur. Aber waren zur Zeit Bruns die Handwerker eine aufsteigende Klassenfraktion, zurzeit Stüssi die führende, so zur Zeit Waldmanns eine absteigende. Es ist die letzte grosse Machtentfaltung der Handwerkerzünfte, und Waldmann ist ihre letzte grosse Persönlichkeit. Er ist Krieger und Händler zugleich, Feldherr und Kaufherr, und er ist dazu noch ein gekaufter Politiker: gleichzeitig lässt er sich von verschiedenen ausländischen Mächten Geld geben.
Waldmann will nichts anderes als sein persönliches Regiment durch das Regiment der Zünfte und dieses durch das Regiment der Stadt festigen, er verdrängt planmässig die Junker, er monopolisiert den Handel zum Nachteil der Landschaft, er gebietet allen Handwerkern, in die Landschaft, er gebietet allen Handwerkern, in die Stadt zu ziehen, er schränkt die Vorrechte der Geistlichen ein, er reglementiert das gesamte Leben der Untertanen, er verbietet die Abhaltung von Gemeindeversammlungen, er entzieht den Bauern das Recht des Jagens und Fischens, er erhebt neue Steuern, und er wendet sich gegen das Reislaufen, obschon er von Frankreich und Savoyen, von Österreich und Lothringen, von Mailand und andern Pensionen bezieht. Die Stadt soll wachsen, denn die Bevölkerungsziffer geht infolge der Kriegszüge rapid zurück, und das Handwerk wird gemieden.  



Der Aufstand, der alsbald gegen Waldmann losbricht, vereinigt persönliche Gegner und Bauern Wellenberg. Brun endete durch Gift, Stüssi auf dem Schlachtfeld, Waldmann endet auf dem Schafott. Und seine Schreckensherrschaft wird durch eine andere abgelöst: fällt das Haupt am 6. April 1489, so muss noch am 14. Dezember eine Verfügung erlassen werden, dass „niemand heimlich ertränkt noch getötet oder verurteilt werden dürfe“.
Den Bauern werden Zugeständnisse gemacht, die aber bald wieder dahinfallen, dem Regiment der Zünfte folgt das Regiment der Constaffel, der Junker und Geldherren – das Grossgewerbe der Manufaktur bricht sich Bahn, das Monopol der Handwerker verschwindet. Noch geben sich aber die Handwerker nicht geschlagen, der Kampf der Fraktionen dauert weiter.
Nach aussen folgen der siegreiche Schwabenkrieg und dann die ennetbirgischen Feldzüge, die in der Hauptsache durch Uri angestrengt werden. Nicht alle Orte machen mit, Solothurn weist das Hilfsgesuch bündig mit den Worten ab: „Wir haben keinen Käse, Ziger und Anken in Mailand zu verkaufen.“ Zürich ist jedoch dabei, denn es will mit im Handel sein – Mailand ist der Ausgangspunkt nicht nur zum Gotthard, sondern auch zu den Bündner Pässen. Es ist ein teuer Handel: allein bei Novara und Marignano fallen mehr als 800 Zürcher – 1515 ergibt die Zählung der Bevölkerung nur noch 921 waffenfähige Stadtbürger, davon sind 130 Junker und Nichtstuer und 90 Wirte.
Eine Neuerung ist lebensnotwendig, eine grundlegende Neuerung, sie ist fällig im dringlichsten Masse, und sie muss, soll sie durchgreifend sein, vor allem drei Punkte erfassen: das Reislaufen muss kategorisch verboten werden, soll der Handwerkerstand nicht gänzlich ruiniert und der Bauernstand von Arbeitskräften entblösst sein; den Untertanen muss Entgegenkommen gezeigt werden, soll der Gegensatz von Stadt und Land nicht ins Anarchische rücken; der Stadt muss vermehrt Reichtum zugeführt werden, soll sie sich erholen.
Der Mann, der alle diese Forderungen in wahrhafter Genialität zusammenfasst und sie zugleich mit den allgemeingeschichtlichen Tendenzen der Epoche zu verbinden weiss, der kühn die ersehnte Neuerung herbeiführt, der die Handwerker wie die Gewerbler, die Kaufleute wie die Bauern in sein Gefolge bringt, der zudem noch der Stadt immense Reichtümer durch Aufhebung der kirchlichen Güter und durch Expropriation der geistlichen Besitzungen zuführt, ist Ulrich Zwingli.
Zwingli ist eine der grossen Gestalten nicht nur der zürcherischen, ja nicht nur der eidgenössischen, sondern der europäischen Geschichte. Wie selten einer verbindet er echte Religiosität mit umfassender Bildung, Verstandesschärfe mit Gemütstiefe, ausserordentliches Organisationstalent mit weiter politischer Sicht; er ist voller Energie und Kühnheit, er ist aber auch rechthaberisch, intolerant und eigenwillig. Er ist die hervorragende menschliche Synthese der Zeit, die das Religiöse und das Politische, das Kirchliche und das Staatliche gleich stark in sich trägt.
Am 1. Januar 1519 hält er als Leutpriester am Grossmünster seine erste Predigt, vier Jahre später legt er dem Rat seine 67 Thesen vor, ein weiteres Jahr darauf ist er vollständiger Sieger und Beherrscher Zürichs. Was er vernichtet, sind alte Autoritäten, was er aufrichtet, ist eine veraltete Macht, was er aufrichtet, ist eine neue Macht; was er vernichtet, ist ein alter Glaubenszwang, was er aufrichtet, ist ein neuer Glaubenszwang. Vor allem aber, und hier handelt er im europäischen Massstabe, setzt er anstelle eines religiösen Kultes, der dem alten Weltbild der Feudalität und das Landmanns entspricht, also der Gesellschaft mit Agrarkultur, einen religiösen Kult, der dem neuen Weltbild des Kapitalismus und des Städters entspricht, demnach der Gesellschaft mit Handelskultur, der Gesellschaft des Individualismus: jeder einzelne verkehrt mit Gott direkt und braucht die Kirche als unbedingte Heilsmittlerin nicht mehr.
Mit seiner „Augsburger Konfession“, die er zuhanden des Augsburger Reichstages von 1530 verfasst, trennt sich der Reformator radikal von der alten Kirche, ist der neuzeitlicher als die andern Reformatoren Luther und Calvin; am 24. Oktober 1529 schon verkündet er sein Bekenntnis von der Kanzel des Grossmünsters und verdeutlicht auch theologisch den Riss zwischen gestern und morgen.
So vereinigen sich in Ulrich Zwingli weltgeschichtliche Strömungen mit lokalpolitischen Bestrebungen: Zürich wird protestantisch, und was im kontinentalen Raum geschieht, das geschieht im eidgenössischen – man trennt sich in die beiden Lager der Altgläubigen und Neugläubigen und steht sich unversöhnlich gegenüber.   

In der Stadt selbst reformiert Zwingli an Haupt und Gliedern. Getragen wird er durch die Handwerkerzünfte und auch durch die Kaufmannschaft. Gegner sind vorab die Junker. Auf dem Lande sieht man neue Hoffnungen auftauchen, besonders weil die Privilegien der Geistlichkeit abgeschafft werden. Neue demokratische Elemente drängen sich vor: anstelle der hierarchisch gegliederten katholischen Kirche tritt die demokratisch ausgerichtete evangelische Gemeinde. Infolge des Reislauf-Verbotes blüht das Wirtschaftsleben wieder auf, und die Konfiskation der Kirchengüter füllt die Staatskasse mehr als ausländische Pensionen.
Eidgenössisch hegt Zwingli völlig neue Pläne, man darf behaupten:  wirklich   eidgenössische Pläne. Er erstrebt eine nationale Einheit, allerdings geführt durch die protestantischen Städte, eine Zentralisation mit effektiver Bundesgewalt, eine protestantische Eidgenossenschaft mit vorwiegend städtischer Kultur, also einer Handels- und Gewerbekultur, und ein Bündnis mit den Protestanten des Auslandes, in der Hauptsache mit den Städten Deutschlands, Frankreichs und Niederlande, ein Bündnis wider die Fürsten.
Was er erreicht, das ist das Gegenteil: in Zürich ersetz er die geteilte Herrschaft der Constaffel und der Zünfte durch die Herrschaft der nun protestantischen Geistlichkeit, er errichtet geradezu eine Theokratie; gegenüber den Untertanen zeigt er sich teilweise entgegenkommend, grundsätzlich gibt er jedoch die städtischen Privilegien nicht preis, er kann sie nicht preisgeben. Hier stütz er sich auf städtische Volksentscheide; die Demokratie der Stadt richtet sich gegen die Demokratie der Landschaft. Aber auch diese städtische Demokratie ist bloss eine Mantel-Demokratie: die Volksbefragungen hören in dem Moment auf, wo der Reformator das Volk gegen sich weiss, wo er vom Kriege gegen die Altgläubigen Miteidgenossen spricht. So wird zwangsläufig der Demokrat, der er sein will, zum Diktator, der, wie die Schwyzer höhnen, Bürgermeister und Stadtschreiber, Kaiser und Papst in einer Person ist und immer rücksichtsloser und brutaler, sogar mit dem Scharfrichter, gegen Andersgesinnte vorgeht: gegen aufsässige Bauern, gegen christlich-kommunistische Wiedertäufer, gegen Altgläubige Junker, gegen katholische Miteidgenossen. Wieder steht die Landschaft gegen die Stadt wie zu Zeiten Waldmanns, wieder steht die Eidgenossenschaft gegen Zürich wie zu Zeiten Stüssis, wiederum ist der Bund zerspalten. – Zürich im Bunde? Nein, Zürich gegen den Bund!
Die Schlacht bei Kappel vom 11. Oktober 1531 setzt dem Reformator ein Ende, wie Stüssi findet er auf dem Kampfplatz den Tod, und sein Leichnam wird geschändet. Es ist die vierte grosse Persönlichkeit Zürichs,  die  eines  unnatürlichen Todes stirbt – Mord, Schlacht, Schafott, Schlacht, das ist die ungeheuerliche Abfolge. Und zum viertenmal hat sich persönliche Machtpolitik gegen das Gemeinwesen gewendet.
In der Stadt triumphiert jetzt die Constaffel; die Herrschaft der Zünfte,  eine Sache des Spätmittelalters und bereits anachronistisch, wird weiterhin einengt. Die Reformation aber und vor allem die Aufhebung der kirchlichen Besitzrechte bleiben bestehen. Sie bleiben bestehen, weil sie Teil sind der neuen Welt, der Welt des nun mächtig aufstrebenden Kapitalismus  der  Manufakturperiode;  sie  bleiben  bestehen,  weil  sie  das  tote Eigentum der Kirche allmählich in produktives kapitalistisches Eigentum verwandeln und somit der Akkumulation zuführen, wie auch die menschliche Arbeit durch die neues protestantisches Ethos erhöht wird, das der persönlichen Arbeitsleistung vermehrten Wert zuspricht und so der Mehrwerterzeugung besser dient.
Einem neuen gewaltigen Reichtum steht nichts mehr im Wege, im Gegenteil, drei besondere Faktoren begünstigen in hervorragendem Masse die Stadt: das Verbot des Reislaufens zugunsten billiger Arbeitskräfte; die aussenpolitische Neutralität der Eidgenossenschaft, eine Folge der Niederlage von Marignano; die Zuwanderung Handels und gewerbetüchtiger protestantischer Flüchtlinge vorab aus Norditalien, die fortgeschrittene Produktionsmethoden  und  internationale  Handelsbeziehungen mitbringen. Während Europa den Dreissigjährigen Krieg erlebt, während die dynastischen und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen den Kontinent verwüsten, blühen hier Handel und Gewerbe, wächst die Manufaktur, werden grosse Teile der protestantischen Eidgenossenschaft zum entwickeltsten Industriegebiet. Zürich wird wichtiger Sitz kapitalistischer Unternehmer und Grosskaufleute.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts werden einige tausend Refugianten vorübergehend oder dauernd von den reformierten Städten aufgenommen. 1555 erfolgt in Zürich die Ankunft der reformierten Locarnesen und Oberitaliener mit den Familien Orelli, Muralt und Pestalozzi, Geschlechter, die bald ins altzürcherische Patriziat hineinwachsen und dem Handel wie dem Gewerbe stärksten Auftrieb geben. Mit andern Worten: die erste, vortechnische Phase  der  Industrialisierung  als  die späte Periode des Handelskapitals und der Manufaktur wird entscheidend gefördert; der industrielle und kommerzielle Vorsprung,  der,  europäisch gesehen,  bis ins 20. Jahrhundert hinein andauert, besitzt hier eine der wichtigsten Quellen.

Aber dieser neue Reichtum führt zu einer verstärkten sozialen wie politisch-rechtlichen Abgrenzung  der  Bevölkerungsschichten.  Die  Aufnahme von Neubürgern wird allmählich erschwert, denn das Ziel ist, die materiellen Vorteile auf einen möglichst kleinen Personenkreis zu beschränken, damit der Anteil des einzelnen oder der einzelnen Familie am Ertrage steigt. Aus der alten Junkerschaft und den Neureichen entsteht eine städtische Nobilität, die alsbald den Kleinen wie den Grossen Rat beherrscht  und  besetzt, ja sogar die Ämter erblich werden lässt. Dieses Patriziat betrachtet sich als alleinigen Träger der Staatsgewalt, und der nun herrschende zürcherische wie eidgenössischer Absolutismus unterscheidet sich nur durch den Grad des Umfangs vom Fürstenabsolutismus der Umwelt. So wird die Kluft zwischen den städtischen Klassen und Fraktionen und zwischen Stadt und Land zusehends grösser. Das 17. Und 18. Jahrhundert erleben denn auch Bauernrevolten in Permanenz, erleben zahlreiche städtische Erhebungen, die alle radikal erstickt werden.   
Soziale Krise, verbunden mit immenser Ausbeutung  und  politischer  Tyrannis,  das ist  das Kennzeichen der zweihundert  Jahre  von der Reformation als letzten grossen  Neuerung bis zur Französischen  Revolution  als  der  kommenden grossen Neuerung. Und während dieser Zeit gibt es zwei Eidgenossenschaften, zwei Sonderbünde mit Sondertagsatzungen, Protestanten und Katholiken, die sich nicht weniger als viermal auf dem Schlachtfeld messen: den zwei Kappeler Kriegen von 1529  und  1531  folgen die zwei Villmerger Kriege von 1656  und  1712. Endet der zweite Kappeler Krieg mit der Niederlage der Protestanten und dem Sieg der Bauern und auch des Mittelalters, so endigt der zweite Villmerger Krieg mit den Niederlagern der Katholiken und dem Sieg der Städte und auch der Neuzeit, mit dem Sieg des inzwischen stark gewordenen Kapitalismus. Das einzige Band, das die dreizehn alten Orte verbindet, das sind gemeinsamen Untertanenlande und das ist das Stanser Verkommnis als antirevolutionäres Verdikt gegen Volk und gegen demokratische Gesinnung.
Folgerichtig, dass in der Mitte des 17. Jahrhunderts ein grosser und heroischer Aufstand der Bauern die eidgenössischen Lande überzieht, folgerichtig, dass diese Erhebung der Bauern ein blutiges und grauenhaftes Ende nimmt. Folgerichtig, dass die Bauern dem "Herrenbund von Stans" einen "Volksbund von Sumiswald" gegenüberstellen, dass Bauern sich Tellen nennen, während die Regierung von Uri die Erwähnung der Tellensage Verbietet. Folgerichtig, dass die Stadt Zürich starke Truppenkontingente und den Heerführer stellt, Johann Konrad Werdmüller, dem der Generalmajor Rodolf Werdmüller Gefolgschaft leistet; folgerichtig, dass diese Heerführer einer Familie entstammen, die der Manufaktur stark verpflichtet ist, und dass weiter auf Seiten der beiden Werdmüller der allgewaltige Bürgermeister Heinrich Waser steht. Die Bauernfängerei und Bauernschlächterei wird im grossen Massstab betrieben.
Der Sieg über die Bauern stärkt das Patriziat noch mehr, die Scheidung zwischen Regenten und Untertanen für das Land, zwischen Herren und Bürgern für die Stadt wird als "gottgewollt" bezeichnet. Im Jahre 1705 sitzen im Rat 18 Escher, 13 Hirzel, 10 Werdmüller; im Jahr 1710 ist ein Escher Bürgermeister, während fünf seiner Söhne Ratsherren sind. Die Oligarchie, die Familienherrschaft, kann nicht weiter getrieben werden. Einige Dutzend Patrizier beherrschen 8000 Stadtbürger und herrschen über 170000 Untertanen, sie besitzen das Monopol der Wirtschaft, der Politik, der Kirche, der Wissenschaft und vor allem das Monopol des Reichtums und der Ausbeutung.
Wenn die bürgerlichen Historiker anlässlich der Jubiläumsausstellung "600 Jahre eidgenössisches Zürich" diesem Kapitel der Zürcher Gesichte den Titel "Glanzvolle Repräsentation" verleihen, so ist gewiss, dass die Repräsentation nach aussen stimmt wie der glanzvolle Reichtum des Patriziats. Aber die Kehrseite dieser goldenen Medaille ist ungeheuerliche Ausbeutung, ist unmenschliche Armut der grossen Mehrheit: in der Stadt ist die arbeitende Bevölkerung weitgehend rechtlos, auf dem Land schrumpft die Existenzbasis immer mehr zusammen, und es gibt Dörfer, wo ein Drittel der Bewohner von Betel und Unterstützung lebt. Die Grundrente wird aufs äusserste abgeschöpft, und die Verpflichtung, alle Produkte auf den städtischen Markt zu bringen und dort zugleich wucherische Monopolpreise für gewerbliche Erzeugnisse zu zahlen, liefert die Bauern gänzlich der Willkür aus. Umso üppiger blüht die Heimindustrie mit kärglichen Lähnen: im Jahr 1780 sind auf der zürcherischen Landschaft 6500 Weber und 35000 Spinner beschäftigt, also jeder vierte Untertan arbeitet in der  Baumwollmanufaktur der städtischen Herren. Streng sieht das Auge der Stadt auf die Durchführung aller monopolistischen Gebote und Verbote – es ist meist das Auge des Pfarrers, das hier zu rechten sieht, aber wohl kaum das "Auge des himmlischen Herrn". Aber sogar diese Pfarrherren sehen sich inmitten des unbeschreiblichen Elends gezwungen, an die hochfahrenden Regenten als reiche Tuch- und Seidenherren der Stadt um Fürbitte für das Volk zu gelangen, "da vil tusend sufzer gönd wegen Abbruch ihres Löndlins und des zunehmenden grossen Gewünns…". Diesen Fürsprachen wird kein Gehör geschenkt: die krasse Ausbeutung geht weiter.

Ebenfalls in der Stadt werden etwaige demokratische Gelüste sofort erstickt: der Theologe Christoph Heinrich Müller, der es wagt, die Patrizier zu tadeln, wird 1767 auf Lebenszeit verbannt; Johann Jakob Bodmer, der grosse europäische Gelehrte und geniale Anreger, wird schimpflich bespitzelt; Pfarrer Johann Heinrich Waser, der verschiedene Unterschlagungen aufdeckt und die patrizische Reaktion anklagt, wird 1780 unter grotesken staatsrechtlichen Vorwänden zum Tode verurteilt und enthauptet; Caspar Lavater, der die Ungeheuerlichkeiten des Grüninger Landvogtes Grebel an die Öffentlichkeit bringt, muss für einiges Zeit ins Ausland, und seine "Schweizerlieder" werden als staatsgefählich verboten; die Anhänger einer bürgerlichen Demokratie im Sinne Rousseaus und einer Gleichstellung von Stadt und Land, sie werden als schlechte Eidgenossen hingestellt, die „fremdes Gedankengut“ verbreiten, als "Söldlinge des Auslandes", als "Auslandshörige", als "gekaufte Subjekte", als Landesverräter, und dem Eifrigsten unter ihnen wirft man in den Gassen der Stadt Steine nach: er heisst Heinrich Pestalozzi.
Als der Arzt Pfenninger, der Hafner Neeracher und der Landrichter Stapfer, alle drei von Stäfa, im Sommer 1794 ein Memorial entwerfen, eine höfliche Bittschrift an die „Gnädigen Herren“, um alter verbriefte Rechte aus der Zeit Waldmanns zu fordern und zugleich an die neuen Menschenrechte zu appellieren, werden sie, bevor die Tinte der Petition trocken ist, verhaftet und verbannt, die Denkschrift wird verbrannt. Stäfa wird militärisch besetzt, zahlreiche Stäfner werden in Fesseln nach Zürich gebracht, einige werden auf Lebenszeit zu Kerker verurteilt und "keine Bittschrift soll sie erreichen"; die verbrieften Rechte werden als veraltet und unpassend nun auch juristisch ausser Kraft gesetzt, de facto waren sie in dieser so glorreichen Republik überhaupt nie in Kraft. 
Das Land ist geradezu übersät mit Vogteien und Vögten, die zudem noch Untervögte und Dorfvögte kennen, Kirchenvögte, Waisenvögte und Armenvögte, alles Gehilfen einer "Hochwohllöblichen, Edelgesinnten und Hochverdienstlichen Obrigkeit", von Gott nicht nur geduldet, sondern in seinem Namen eingesetzt und waltend.
Tatsächlich, Johannes von Müller, der zeitgenössische Geschichtsschreiber, bezeichnet nicht zu Unrecht die so „viel gerühmte Freiheit der Schweizer als ein Schattenbild, als ein eitles Nichts“, und Goethe äussert sich im Jahre 1755 noch eindeutiger: „Frei wären die Schweizer?...
Was man den Menschen nicht alles weis machen kann! Besonders wenn man so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt.“ So ist alles zur Explosion bereit, das alte Zürich wie die Eidgenossenschaft.
Die Revolution lässt nicht lange auf sich warten: neun Jahre nach der grossen Französischen Revolution, geschürt durch helvetische Flüchtlinge in Paris und gefördert von den Ideen der Aufklärung, dann getragen durch französische Armeen, bricht sie im Februar 1798 gleichzeitig in den Städten, den zugewandten Orten, den gemeinen Herrschaften und den Untertanenlanden los, und der letzte patrizische Bürgermeister Zürichs, David von Wyss, hat recht, wenn er anlässlich einer Ratsdebatte über die nun plötzlich ergehende Begnadigung der Stäfener sagt: „Die ganze Eidgenossenschaft, alles ist gegen uns gestimmt.“ Der Mobilmachung, um Bern Hilfe zu leisten, folgen etwas mehr als zehn Prozent, und diese widerwillig. Am 5. Februar proklamiert man die Abdankung des Alten, und überall werden Freiheitsbäume aufgerichtet.
Seit dem Eintritt Zürich in den eidgenössischen Bund sind fast 450 Jahre vergangen, Jahre unumschränkter Macht und Willkür, Jahre des Reichwerdens und der Ausbeutung, 450 Jahre der Diktatur als Mantel-Demokratie.
Wird jetzt eine völlig neue Zeit anbrechen? Werden die proklamierten und ersehnten Menschenrechte, werden die neuen Losungen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklicht?
Werden die Privilegien abgeschafft? Gilt nun für alle Bürger das gleiche Recht, haben sie alle die gleichen Lebensmöglichkeiten?Werden endlich die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, realisiert? – Das sind die Fragen, die sich in diesen Revolutionstagen aufdrängen.

Vorerst scheint es so: zahlreiche Freiheitsrechte werden gesetzlich verankert: Rechtsgleichheit, Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Petitionsrecht;  die wichtigsten Freiheiten jedoch sind die Gewerbefreiheit, die das wirtschaftliche Monopol der Zunftherren und Patrizier bricht, und die Gleichstellung von Stadt und Land, die das Untertanenverhältnis aufhebt. Die Feudallasten fallen dahin.
Zugleich wird auch der Stand Zürich als selbständiges Staatswesen aufgehoben, er ist nur noch Teil der „Einen, unteilbaren Helvetischen Republik“. Die Demokratie ist repräsentativ, in Urversammlungen wählen je 100 Bürger einen Wahlmann, die Wahlmänner zusammen bestellen den Rat, die Verwaltung und die Gerichte – die Helvetische Zentralregierung lässt sich in den Kantonen durch einen Regierungsstatthalter vertreten.
Das Pendel schlägt nach der andern Seite aus: der lose Staatenbund der Altern Eidgenossenschaft wird schnell und künstlich zu einem zentralistischen Einheitsstaat umgeformt – die patrizische Unterdrückung von ehedem fordert jetzt zur Unterdrückung der Patrizier auf. Der vormalige zürcherische Untertan Rellstab erklärt in der Nationalversammlung: „Die Unterdrückung und Verfolgung aller Freunde der Freiheit unter den alten Regierungen war so gross und so schauderhaft, dass sie billig nur die Folgen davon tragen…“; andere fordern die völlige Konfiskation der patrizischen Vermögen.
Soweit kommt es jedoch nicht, im Gegenteil, das Privateigentum wird sanktioniert, und im Parlament wird geradezu, um zeitgenössische Worte zu gebrauche, „ein Götzendienst des heiligen Eigentums“ getrieben. Auch in andern Dingen werden die revolutionären  Schösslinge beschnitten oder sogar umgepfropft, und der Ausruf Pestalozzis beleuchtet die Situation dieser helvetischen Revolution, der Revolution einer neuen bürgerlichen Klasse, im grellsten Licht: „Es ist leichter, dass es Katzen hagle und Morcheln schneie, als dass die Grundsätze eines gerechten Steuerfusses bei einem Geschlecht Eingang finden, das aus Sittenreinheit auf dem Geld sitzen muss wie eine Kröte auf dem Dünkel.“
Und es ist dieser krasse Egoismus eines neuen Bürgertums, das der Helvetik das Genick bricht: die fortschrittlichen Ideen werden nicht getragen durch eine gerechte, wirklich demokratische Verteilung der Pflichten und Lasten. Die Revolution bleibt, ihrer historischen und ökonomischen Voraussetzungen gemässe, auf halbem Wege stehen und fällt der sich im internationalen Massstab erstarkenden Reaktion anheim. Die Demokratie im wörtlichen Sinne, die Herrschaft des Volkes, sie bleibt weitgehend Schöngeisterei, sie fällt sogar dem Missbrauch in die Hände.
Im Verlauf des zweiten Koalitionskrieges der antirevolutionären europäischen Mächte gegen das revolutionäre Frankreich wird die Schweiz zum Kampfplatz der  Heere,   nicht zuletzt wegen der landesverräterischen Machenschaften des im Ausland weilenden und vom ausländischen Geld lebenden letzten Schultheissen des Alten Bern, von Steiger, der alles unternimmt, um mittels fremder Truppen  die  rechtmässige schweizerische Regierung zu stürzen. Im März 1799 brechen die Feinseligkeiten aus, die Armeen stehen sich auf zürcherischem Boden gegenüber, und die Helvetische Regierung sieht sich gezwungen, zu einem terroristischen Errungenschaften der Revolution sind zunichte gemacht, frühere Patrizier werden als Geiseln festgenommen und Todesstrafen werden angedroht. Trotzdem marschieren die Österreicher mit ihren Verbündeten am 6. Juni in Zürich ein, und von Steiger schlägt hier sein konterrevolutionäres Hauptquartier auf; die konservativ gesinnten Bürger amen auf.
Der Sieg der Franzosen unter Massena in der zweiten Schlacht von Zürich am 25. September wendet das Blatt – aber das Endresultat ist erschreckend: das Elend des Volkes ist unabsehbar, die Kontribution der französischen Armee ist riesig, die Helvetische Regierung ist mittellos; eine verzweifelte Stimmung ergreift alle Schichten, und der Republik wird jegliche Schuld zugeschrieben.
Überall  entstehen  Unruhen,  geschürt  durch die Anhänger des Alten, jeder misstraut jedem, Staatsstreiche sind an der Tagesordnung: am 8. Juni 1800 erfolgt ein erster Staatsstreich mit dem Sieg der Gemässigten über die Radikalen, also dem Sieg der Girondisten über die Jakobiner; am 7. August 1800 ein zweiter Staatsstreich, der die Radikalen noch weiter zurückdrängt; am 27. Oktober 1801 ein dritter Staatsstreich, der die Reaktion völlig in den Sattel hebt; im April 1802 ein vierter Staatsstreich, der die Anhänger der Helvetik wieder ans Ruder bringt…jedesmal sind Zürcher massgeblich beteiligt, jedesmal werden die Andersgesinnten verfolgt, und keinmal wird das Volk befragt. Die erfolglose Bombardierung des jetzt reaktionären, antihelvetischen Zürich durch die helvetischen Truppen bringt erst recht der Reaktion den Sieg, das Volk wehrt sich nur schwach und liefert die Waffen ab; man ist der Unruhen müde, die Revolution ist vorläufig beendet.
Der Zürcher Regierungsstatthalter Ulrich übergibt sein Amt dem Bürgermeister Hans von Reinhard, einem Junker des alten Regiments. In die neue zürcherische Regierung werden jetzt vornehmlich Patrizier gewählt. Und wenn auch die Bauern rechtlich nicht mehr Untertanen sind, so sind sie es wirtschaftlich – die Kapitalisierung des Feudalbesitzes, also die Ablösung der Zehnten und Grundzinse, wird auf das 25fache des Durchschnittsertrages  errechnet,  und das  Geld  wird rücksichtslos eingetrieben. Andelfinger, die im Januar 1804 eine Bittschrift an die Regierung richten, werden gefangengesetzt; ein Aufstand der Gemeinden am See wird im „Bockenkrieg“ mit eidgenössischer Hilfe – wir sehen, das Stanser Verkommnis ist noch in Kraft – niedergeworfen, und die bezopfte Aristokratie rächt sich für die Tage die vier Führer, die Willy, Schneebeli, Kleinert und Häberli, nicht ohne Zutun des Herrn von Reinhard, hingerichtet, andere zu lebenslänglichem Kerker verurteilt. Die Gemeinden wird eine hohe Busse auferlegt, und da die armen Bauern sie nicht bezahlen können, leiht ihnen die hochherzige Aristokratie zu hohen Zinssätzen das Schuldgeld:  das Unglück des Volkes wird nicht nur durch Hinrichtungen sanktioniert…
Die Reaktion macht sich allerorten breit und beschattet  die  nächsten  Jahrzehnte. Das allgemeine Stimmrecht wird aufgehoben und an ein Vermögen gebunden: die Stadt mit ihren 10000 Einwohnern hat 130 Vertreter im Grossen Rat, die Landschaft  mit  200000  Einwohnern  deren 82. Jegliche Gemeindeautonomie  ist  liquidiert,  die Ratsverhandlungen  und  das  Budget  sind geheim.
Intoleranz und Zensur, Polizeimethoden und demagogische Verfolgungen sind an der Tagesordnung – die „Heilige Allianz“ der europäischen Reaktion wird zur „Heiligen Allianz“ des eidgenössischen und zur „Heiligen Allianz“ des zürcherischen Regiments.
Das ist aber nur die eine Seite des Januskopfes der Zeit, die politische Seite. Die soziale Seite ist noch fragwürdiger. Wurde im Jahre 1799 in St. Gallen die erste mechanische Spinnerei mittels helvetischer Regierungsgelder errichtet, so wird 1804 in Zürich die „Neumühle“ gegründet: die Fabrik beginnt ihren Siegeszug, die Fabrik, die zahlenmässig  eine  viel  grösserer Arbeiterschaft braucht als die manuelle Manufaktur: die moderne Industrie verlangt das moderne Proletariat. Die Gesellschaft ist dreigeteilt: finden wir im politischen Gesichtskreis die feudale alte Reaktion führend, so im wirtschaftlichen Raum die Unternehmerklasse des neuen Bürgertums, beide verfeindet im Ringen um die staatliche Macht, beide vereint in der unsozialen Gesinnung, verbunden in der Niederhaltung der Ausgebeuteten, der Arbeiterschaft.

So spricht hier nicht mehr das Memorial der Stäfener, sondern das "Memorial des Erziehungsrates über das zürcherische Fabrikwesen" aus dem Jahre 1813: "Von der zahlreichen Klasse der Fabrikarbeiter sind bereits Kinder des 7. Und 8. Lebensjahres an das Spinn – und Spuhlrad gebannt; in den Fabriken wird Tag und Nacht gearbeitet; es gibt Minderjährige, die von morgens 5 Uhr bis abends 9 Uhr arbeiten, zu einem Wochenlohn von ein paar Batzen…"Die erwachsenen Arbeiter zählen bei 15stündiger Arbeitszeit Wochenlöhne  von  3-4 Franken. Der Druck des sozialen Elends ist unermesslich. Kein Geringerer als Pestalozzi geisselt in seiner denkwürdigen letzten Rede im Jahre 1826 den Umstand, dass der Proletarier lediglich  als  Werkzeug des nach Bereicherung trachtenden Fabrikanten in Rechnung gestellt wird und als "der Sohn des Geringen da ist, um das Rat anzutreiben, das den Vornehmen empor trägt".
Aber auch das Bild der Stadt und das Bild der Landschaft erfahren gewaltige Veränderungen: an vielen Orten werden Fabriken errichtet, es ragen Schornsteine in den Himmel, die  die  seit  Jahrhunderten höchsten Bauten, die Kirchtürme, überragen – Gleichnis neuer und alter Zeit; Stadtmauern und Befestigungen fallen. Die topographische Struktur wandelt sich analog der sozialen, und der von Klopstock noch besungene und von Goethe bewunderte Zürichsee  wird  eingerahmt nicht mehr nur von einem Kranz lieblicher Dörfer mit Weinbergen  und  Gärten, sondern von einem Dornenkranz scheusslicher Fabriken mit Lärm und Rauch und Abwässern.
Neue Untertypen drängen sich in diesen Jahrzehnten nach vorn, sehr oft ungestüm und rücksichtslos; das Alte kann nicht schnell genug beiseitegeschoben werden, das Neue nicht schnell genug umfänglich genutzt. Der Reichtum erfährt eine radikale  Umschichtung,  Banken  schiessen allerorten aus dem Boden, Eisenbahnen fahren mit bisher  nicht  gekannter  Geschwindigkeit  tosend durch das Land, ja es wird projektiert, vor der Stadt mitten über den See eine Eisenbahnbrücke zu bauen. Im "Martin Salander" Gottfried Kellers wird jetzt unterschieden zwischen "Kulturgehölz" mit Geschichte und kultureller  Vergangenheit  und "Urwald" als neues Land barbarischen Tuns, das ausgerichtet ist an Kampf und Ausrottung, Egoismus und Profitstreben: "Alles wird von vorne angefangen, die Leute sind sich gleichgültig, nur das Abenteuer des Werdens hält sie zusammen; denn sie haben keine gemeinsame Vergangenheit und keine Gräber der Vorfahren."
Es beginnt die Zusammenballung der Bewohner  in  der  Stadt, in neuen Industriezentren; die Binnenwanderung, ermöglicht durch die Niederlassungs- und Glaubensfreiheit, durchmischt die Bevölkerung ethnisch  und  konfessionell, die Abwanderung von den Höfen  und  Dörfern nimmt neue Ausmass an, die Auswanderungen, verursacht nicht zuletzt durch Wirtschaftskrisen,  wird  zum Problem. Alles und jedes ist in Umschichtung begriffen: 1833 wird die Universität Zürich gegründet, die  alte  patrizische  Bildunsprivilegien  abschafft zugunsten neuer bürgerlicher, an denen erst heute wieder, nach mehr als hundert Jahren, vehement gerüttelt wird.
Unwiderstehlich  kündet  sich  die  neue  Epoche  an, die Epoche des Industriekapitalismus mit seinen eigenen ökonomischen Gesetzen  und  seinem  politischen  Liberalismus. Nur folgerichtig, dass die neuen Unternehmer neue politische und vor allem wirtschaftspolitische Freiheiten verlangen – aber beileibe  nicht eine neue soziale Gesetzgebung.  Sie verbinden sich mit der gegenüber der Stadt zurückgesetzten Landschaft, und der geniale Wortführer der Unzufriedenen, der alte Helvetiker Paul Usteri,  hält am 19. Juni 1828 im Grossen Rat jene ausserordentlich leidenschaftliche Rede gegen das veraltete Regiment der Konservativen, die zum verzehrenden Feuer wird – die Pariser Juli-Revolution des Jahres 1830 giesst Öl dazu, der darauf folgende Tag von Uster am 22. November des gleichen Jahres wird zum Fanal.
Ein neues Memorial dient der Verfassunngsrevision als Grundlage; es ist die erste Verfassung der Jahre, die man die "Regenerationszeit" nennt, es ist das Programm des Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie. Die persönliche Herrschaft der Patrizier wird abgelöst durch die Klassenherrschaft der Bürgerunternehmer, die als eine "Herrschaft der Gesetze und Grundsätze" deklariert wird. Es sind die Gesetze und Grundsätze des industriellen Kapitalismus mit ihrer Freiheit des Marktes, des Handels, des Gewerbes und der Konkurrenz, vor allem aber der Ausbeutung. Es ist die neue Freiheit, die das Zürcher Volk mit 40503 Ja gegen nur 1721 Nein als Protest gegen das Alte annimmt – sie entspricht den wirtschaftlichen und politischen Erfordernissen der Zeit. Es ist vor allem die Freiheit des Kapitals, die Freiheit des Privateigentums, es ist die Etablierung der bürgerlichen Unternehmerklasse; es ist eine neue Diktatur als neue Mantel-Demokratie.
Zwei Jahre nach dem glorreichen Tag von Uster kommt es am gleichen Ort zum Aufstand der verelendeten Textilarbeiter, zur Revolte gegen die Fabrik, gegen die Maschine, die man als die Ursache des neuen unmenschlichen Übels betrachtet: die Spinnerei Coorodi wird in Brand gesteckt.
Die Maschinenstürmer, 56 an der Zahl, werden gefesselt nach Zürich transportiert und zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Charakteristisch der diesbezügliche Ausspruch eines Bürgers: "An diesem Tag hat vor zwei Jahren das Volk den schweren Kampf gegen die Aristokratie, heute den schweren Kampf gegen die Anarchie siegreich bestanden." Ja, gewiss, die Anarchie der Arbeiter ist nicht die Ordnung der Bürger, aber die Ordnung der Bürger ist die Anarchie der Wirtschaft.
Die Wirtschaftkriese,  die  1839  ausbricht, macht die  Arbeitslosigkeit  zur  Landplage,  macht die Löhne geringer, macht die Steuern höher und setzt die Preise der gewerblichen und landwirtschaftlichen Produkte herab. Wiederum finden sich die verschiedensten Gegner zusammen: Arbeiter, die schlecht entlohnt sind, Bauern, die nicht verkaufen können, Gewerbler, die gegen die Industrie sind, Junker, die gegen den Industriekapitalismus sind, gewisse Fabrikherren, die gegen die von der liberalen Regierung eingerichtete Volksschule sind, da dadurch die Kinderarbeit beeinträchtigt wird – der sog. "Züriputsch" anlässlich der Berufung des neuzeitlich gesinnten Theologen Friedrich Strauss endet mit der politischen Niederlage der Liberalen.
Aber es ist gerade die neue konservative Regierung, die das erste Streikverbot erlässt. – Ein typisches Bild der Zeit, das der Aktualität nicht ermangelt, sei hier kurz festgehalten: als der Sozialist Treichler, ein Reformer und kein Revoluzzer, in der Mitte der vierziger Jahre in der Arbeiterschaft Vorträge hält, werden diese durch die Polizei bespitzelt; die Fabrikleitung von Escher-Wyss verbietet ihren Arbeitern den Besuch; als ihrer 13 gleichwohl an einer von Treichler veranstalteten Pestalozzi-Feier teilnehmen, werden sie auf Grund von Spitzelberichten fristlos entlassen. So funktionieren die bürgerlich-demokratischen Spielregeln ehedem wie heute!
Sie funktionieren auch unter der neuen liberalen Regierung, die nach dem zweiten Freischarenzug ans Ruder kommt, sie funktionieren auch unter der neue n Bundesverfassung des Jahren 1848, die die liberalen Errungenschaften der Industriekantone ins Gesamtschweizerische transponieren und dem Hochkapitalismus im nationalen Rahmen freie Bahn verschaffen durch die Herstellung eines einheitlichen nationalen Wirtschafsgebietes: die bürgerlich-kapitalistische Demokratie konstituiert sich, sie identifiziert sich nach einem Bürgerkrieg mit der Nation und mit dem Volk – der erste Bundespräsident des neuen Staates ist der Winterthurer Jonas Furrer. Diese neue Demokratie ist das Ergebnis des bürgerlichen Klassenkampfes, sie schirmt sich ab gegen aussen und sichert sich nach innen, sie einigt das Bürgertum und hernach das Bürgertum mit der Bauernschaft, zentralisiert weitgehend die Staatsgewalt, und sie führt den Klassenkampf weiter, den Kampf nicht mehr gegen die besiegte alte Klassenfraktion der Aristokraten, sondern den Kampf gegen die neue Klasse der Arbeiterschaft – die bürgerliche Revolution ist im nationalen Massstab grundsätzlich abgeschlossen.
500 Jahre dauert dieser riesige Kampf, ein Kampf mit Niederlagen und Siegen, geführt von bedeutenden Männer und getragen durch den Einsatz des Volkes.
Wohl kämpfen die Fraktionen weiter, kämpfen die Konservativen gegen den Liberalismus als Mitte und beide gegen den bürgerlichen Radikalismus des Freisinns; wohl kommt es noch zu Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Land, aber in den nächsten hundert Jahren schliessen sich all diese Fraktionen immer wieder und immer enger zusammen, um die neue aufstrebende Klasse zu bekämpfen, die Klasse des Proletariats. Und diese formiert sich allmählich, ebenfalls unter gewaltigen Opfern, sie organisiert sich in Gewerkschaften und Parteien, sie wird allmählich stärker, wie auch ihr Widerpart, der Kapitalismus, stärker wird. ist die Demokratie für den sich verteidigenden Partner erobert und erreicht, so ist sie für den andern Partner noch zu erobern; ist die Demokratie für den einen in ihrer formalen Fixierung verwirklicht, so trachtet der andere danach, diese formale Demokratie inhaltlich neu zu füllen: die gesetzliche Gleichheit als Theorie soll ergänzt werden durch die gesetzliche Gleichheit als Praxis.
Kein Geringerer als Gottfried Keller illustriert in unnachahmlicher Weise und auf unvergessliche Art dreizehn nach 1848 die herrschende formale Gleichheit bei praktischer Ungleichheit, die Wirklichkeit eben dieser unvollendeten Demokratie.
Im "Boten von Uster" vom 27. März 1861 beschreibt er den Zug von Knaben durch ein zürcherisches Textildorf: mit gesunden frohen Gesichtern ziehen sie auf die Spielwiese, um sich dort frei und fröhlich zu tummeln, während aus öden Fabrikfenstern schmale, kranke Kindergesichter ihnen traurig nachblicken. Wörtlich fragt er: "Wessen Kinder sind nun dies? Wollen wir sagen, der Unfreien? Das geh nicht; denn ihre Väter, die auch in der Fabrik arbeiten, haben das Recht, zu den Wahlen zu gehen, wie die Väter der andern; ja, sie werden vom Fabrikherrn sogar dazu aufgeboten; nur ist ihnen zu raten, dass sie so stimmen, wie ihnen anempfohlen wird." Und zuletzt spricht der Dichter von einer neuen Leibeigenschaft, schlimmer noch als die feudale, weil sie auf körperliche und moralische Abschwächung gegründet ist. Unmissverständlich weist er auf den Hauptschuldigen hin: auf die "Baumwolle, die fortwährend niggeled und weiter niggelen muss", mit andern Worten: auf den Kapitalismus, der sich fortwährend akkumuliert und akkumulieren muss.
Er akkumuliert sich in Zürich stärker als irgendwo in der Schweiz. Ja, er konzentriert sich hier, er konzentriert sich in Form von Fabriken, Handelsgeschäften, Banken und Verkehrsmitteln, er konzentriert und repräsentiert sich in der gewaltigsten Persönlichkeit der damaligen Schweiz, in einer Persönlichkeit, die als „Princeps“. Wie man ihn nennt, als Fürst und Führer, Stadt und Land tatsächlich beherrscht, in Alfred Escher. Er ist es, der das alte Bürgermeisteramt auch jetzt ausübt: er ist ein neuer Diktator, ebenso eigenmächtig wie seine Vorgänger, ebenso herrschsüchtig und leidenschaftlich, so begabt und rücksichtlos, so weitblickend, energisch und talentiert.
Er ist, um zeitgenössische Worte zu gebrauchen, der "Schaffer und Raffer", wie ihn Zürich noch nie erlebt: Regierungspräsident, mehrmals Präsident des Nationalrates, einflussreichstes Mitglied der Bundesversammlung, Gründer und Leiter der Kreditanstalt, Präsident der Nordostbahn, Initiant der Gotthardbahn und deren Direktionspräsident; er ist der "Eisenbahnkönig" überhaupt – der Konzessionsvertrag der Nordostbahn wird im Jahr 1853 dreifach unterzeichnet: im Namen des Regierungsrates vom Präsidenten Alfred Escher, im Namen der Aufsichtsbehörde der Kantonalbank, also des Kantonsrates, vom Präsidenten Alfred Escher, im Namen des Verwaltungsrates der Bahn vom Präsidenten Alfred Escher. Escher, das ist der neue Liberalismus in Reinkultur: "Escher ist Erbe von Millionen, an seiner Bildung ist nichts gespart worden. Um ihn scharen sich Männer der hohen Finanz und Industrie, die ihre Nasen hochtragen und in den Genüssen des Lebens schwelgen, dann auch solche, welche in dieser Interessengesellschaft Chancen eigenen Vorwärtskommens erblicken: hungrige Professoren und Literaten aus aller Herren Länder, feile Zeitungsschreiber, selbstverständlich auch viele anständige Leute, die ihre Ruhe und Lebensannehmlichkeiten durch Herrn Escher besser gewahr glauben als durch dessen Gegner…"So charakterisiert der kluge Luzerner Politiker Segesser diese Figur der neuen Zeit, des neuen Zürich.

Der Westbahnkonflik, in den Escher mächtig eingreift, deckt so drastisch die Willkür und Aanachie des neuen kapitalistischen Wirtschaftens auf, eine Anarchie, die unter dem Deckmantel demokratischer Freiheit und Ordnung und unter den Fittischen der nationalen Einheit das Land an den Rand des Bürgerkrieges bringt - keine zehn Jahre nach 1848. Hier entladen dich die Spannungen, sie sich bereits in kurzen Jahren angehäuft haben: 
St. Gallen und Winterthur gegen Zürich; Genf und Fribourg gegen die Waadt; Murten gegen die Stadt Fribourg; Bern gegen Biel; die waadtländische Landschaft gegen Lausanne; es ist der Kampf der Unternehmer und Finanziers um die Herrschaft der Eisenbahnlinie nach Genf, der Kampf aller gegen alle, der Kampf schweizerischer Kapitalisten, schweizerischer Kapitalisten gegen ausländische Kapitalisten, die von Escher gestützt werden, und der Kampf ausländischer Kapitalisten untereinander, der Kampf des Hauses James Rothschild gegen das Haus Emile Pereire. Es ist freie Marktwirtschaft, die freie Konkurrenz, es ist die neue Ordnung. Das Endresultat jedoch, das ist der 30 Jahre darauf tolgende Ankauf der verschuldeten und vor dem freien Konkurs stehenden Privatbahnen durch den Bund, durch das Volk - dies ist die neue Herrschaft des Volkes...
Zürichs Geschichte
Chronik 
einer 
Mantel 
Demokratie
Copyright 1971
Dr. Konrad Farner
Herausgeber, Gestaltung
Verlagsgenossenschaft, Zürich 

Dr. Konrad Farner, (1903 - 1974), studierte in Frankfurt, Köln und Münschen Kunstgeschichte und Geschichte, in Basel Philosophie, Tehologie und Staatswissenschaft. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen