Montag, 25. August 2014

ÉDITH PIAF Les plus grands succès

"Wenn ich Paris meine – meine ich die Piaf." Der gutaussehende ältere Herr mit den weissen Schläfen und dem leicht ironischen, nervösen Zug um dem Mund, der sich hernach mit einem weltbekannten amerikanischen Schriftstellernamen vorstellen sollte, geriet unwillkürlich ins Schwärmen: "Wissen Sie, damals, knapp nach dem Krieg – jenes Lied „La vie en rose" – es bedeutete uns so viel…
Nicht allein die Melodie, nicht nur die optimistische Worte vom „rosigen Leben“ – wenn sie, die kleine grosse Edith Piaf, den Song interpretierte, was das alte, gehasste und so geliebte Europa wieder auferstanden – mit all seinen Fehlern und Vorzügen, mit seiner aufregenden Vergangenheit und der vibrierenden mosaikbunten Gegenwart…"
Seine Blicke glitten gleichgültig über die tanzenden, entblösstein Glitzer-Schönheiten des Pariser Reve-Varietes, in dem wir gerade sassen; in seinen Augen flackerte Begeisterung auf, die keinesfalls der Umgebung galt: "Sie verkörpert die andere Seite von Paris, ihre Lieder sind nicht auf Touristen-Effekt bedacht – und darum so echt…Nach dem ersten Piaf-Konzert, das ich hörte, war ich – entgegen meiner Absicht – hingerissen – einfach unfähig, nachher zu schlafen, zu essen oder zu lesen. Am nächsten Tag habe ich sie dann – völlig übernächtigt – in ihrer Wohnung besucht. Und nach Zehn Minuten intensiven Gesprächs habe ich plötzlich begriffen, warum man in frenetischen Beifall ausbrechen kann, weshalb Männer dieser schmalgliedrigen, nicht einmal schönen Frau verfallen können und Frauen mit schwesterlicher, uneigennütziger Liebe an ihr hängen. Es gilt dem Menschen Edith Piaf, jener beispiellos originellen Persönlichkeit, die in manchen Momenten gar nicht auf dieser unserer recht profanen Erde zu wandeln scheint – und doch jedes und alles so genau kennt – sogar Erbärmlichkeit und Schmerz." 

Es wurde oft gesagt und geschrieben, ihr Leben sei ein kompletter Roman, ein Buch, aus vielen Kapiteln zusammengesetzt, in denen nichts, aber auch gar nichts an dramatischen Effekten fehlt: weder eine dubiose Herkunft noch leidenschaftliche Liebe, problematische Freundschaften so wenig wie Ruhm, Leid oder Verzicht. Ohne Zweifel ist es ein bewegtes Dasein, auf das Edith Giovanna Gassion, wie sie bei ihrer Geburt als Tochter eines Jahrmarktsartisten hiess, zurückblicken kann. Korrigieren wir uns aber sofort: Das Wort "zurückblicken" ist für ihren Fall absolut falsch. Sie erfühlt und erlebt noch immer in rasanter Weise diese Variante Welt – und sei es auch von ihren häufigen Krankenlagern aus.  Und sie bereut nichts, nicht die unbedeutendste Episode, nicht ihre kurze Ehe mit Jacques Pills, dem früheren Gatten von Lucienne Boyer, die sie ihrer Karriere und ihrem eigenen ungebundenen Ich abgetrotzt hatte.  "Non, je ne regrette rien" heisst ihr Lieblings-Chanson,   "nein, ich bereue nichts,…"
"Es gibt niemals eine Stagnation für mich, in meiner Umwelt ist alles interessant und begehrenswert", meinte Edith Piaf lächelnd bei einer Plauderstunde, "Gewiss, für so manchen bürgerlichen Geschmack folgen meine Hochs und Tiefs zu rasch aufeinander. Aber, so frage ich Sie, kann man – emphatisch ausgedrückt – gegen seinen eigenen Schicksalsstrom rudern? Ich habe es nie so recht gekonnt. Vielleicht bin ich für mich selbst auch eine „unbekannte Stadt?" "La ville inconnue" lautet einer ihrer Titel, der, etwa wie "Milord" oder "Les trois choches", für den "Spatz von Paris" geschrieben wurde, nicht selten von ihr mitkomponiert und mitgetextet.
Der "kleine Spatz", wie der Neckname der Piaf lautet…ob er noch heute zu ihr passt, für sie aktuell ist? Es scheint zweifelhaft für diese intelligente, grossartige und sympathische Frau. Weniger zweifelhaft ist die Tatsache, dass sie jahrelang nicht anders wie jener graue Gassenvogel gelebt hat, inmitten der schimmernden, verführerischen Seine-Metropole…
Als sie am 19. Dezember 1915 in der Rue de Belleville geboren wurde – auf dem Pflaster und im Licht von Strassenlaternen, was keineswegs eine mitleiderregende Legende ist -, kam sie zu ungeahnter, wenn auch kurzfristiger Popularität. Man betitelte den neuen Pariser Erdenbürger in den Zeitungen gefühlvoll und poetisch mit „Kind der Nacht“, was etlichen Damen der guten Gesellschaft Mitleidstränen entlockte… Edith hat nie Tränen des Selbstmitleids vergessen, aber die Dunkelheit heftete sich wie ein Gespenst an ihre Fersen, die Nacht wurde ihr zum vorbestimmten Aufenthaltsort. In der Nacht zog sie mit ihren Eltern von Jahrmarktsort zu Jahrmarktsort – und als ihre Mutter jung starb, ergriff die "Nacht" im Hause ihrer Grossmutter vollends von ihr Besitz. 
"Nach einer schweren Kinderkrankheit erblindete ich, damals war ich acht Jahre alt", erzählt sie ohne Pathos. "Grossmama lief mit mir zu Ärzten und Quacksalbern, doch erst nach einer Wallfahrt zur Heiligen Therese von Lisieux bekam ich mein Augenlicht, wieder, es war für unsere Umgebung ein einmaliges Wunder…" Deshalb nahm sie das Leben in den folgenden Jahren und Jahrzehnten auch nicht so schwer,  weder im Unglück – Autounfälle, nervliche und körperliche Zusammenbrüche sind anscheinend die unausbleiblichen "Zutaten" zu ihrem Ruhm, ihren Gagen und ihrer Popularität – noch in ihren Glückssträhnen. "Ich muss gestehen, ich erinnere mich ganz gern an meine Zeit als "Hofsängerin", interpretierende Künstlerin – in den Pariser Hinterhöfen", gibt sie humorvoll und offen zu. "Es war eine durchaus lehrreiche und keineswegs unamüsante Periode – nur das Geldeinsammeln mit dem Blechteller fiel mir schwer, weniger der "Auftritt" selbst. Eine gute Freundin hat mir dann diese lebenserhaltende Tätigkeit abgenommen, ohne sie hätte ich wohl kaum die paar Groschen für eine warme Mahlzeit zusammengebracht…"  Und dann kommt es leise, wie ein Selbstbekenntnis: "Die meisten wissen gar nicht, mit wie wenig man auskommen kann. Wohlstand und ein grosses Bankkonto interessieren mich bis heute nicht…"
Kein Wunder, dass sie sich auch vom „Wunder“ ihres jähen Aufstiegs nicht allzu sehr erschüttern liess. („Weshalb denn? Man kann sich überall durchschlagen, seidene Kleider sind ziemlich überflüssig…“)
Sie blieb sich selbst und ihren Freunden Treu – ob ihrem geschiedenen Ehemann, ob Eddie Constantine, Gilbert Becaud oder Charles Aznavour, die sie alle entdeckte und zu Ruhm führte.
Marlene Dietrich und Maurice Chevalier – auch sie gehören zu ihren "Herzensstücken", wie sie bekennt – und für Edith, diese eigenartige kleine Frau von 1,47 m Grösse und 48 cm Taillenumfang, gibt es nichts Schöneres, als mit ihnen „ein vernünftiges Gespräch“ zu führen.
 Ihr Chanson "Exodus" hat, wie der gleichnamige Roman, lange und heftige Diskussionen in ihrer Wohnung am Boulevard de Lannes ausgelöst. "Tränen, Glück, ja die ganze Skala menschlicher Empfindungen schwingt durch ihre Stimme, man vergisst, dass hier eine Sängerin für ihr Publikum singt", meinte der eingangs erwähnte Dichter. "Sie ist ein Mensch und singt für die Menschen…" 
Lia Ave




 

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