Vor dreissig Jahren – am 27. August 1937 – starb in
Holland ein deutscher Philosoph, dessen im Geiste Spinozas errichtete
Gedankenwelt weithin Bewunderung erregt, während er in seinem Heimatlande
vergessen wurde: Constantin Brunner.
Unsere Lexika tun ihn mit ein paar Zeilen ab oder verschweigen ihn ganz.
Indessen dient das „International-Constantin-Brunner-Institut“ mit dem Sitz im
Haag und mit vielen „Brunner-Gesellschaften“ in der westlichen Welt seinem
Werk.
Constantin Brunner wurde als Sohn einer angesehenen
jüdischen Familie 1862 zu Altona geboren. Nach dem Studium der Geschichte und
Philosophie schien ihm eine grosse akademische Karriere zu eröffnen. Da sagte
er der Kant’schen Philosophie ab (der er später manches Unrecht tat),
beschloss, ein Einzelner zu bleiben und wurde ein „grosser Unbequemer“. (Er war
übrigens reich und konnte es sich leisten.)
Rathenau war in
Deutschland einer seiner frühen Bewunderer. Goebbels hat seine Werke verbrannt.
Erst nachdem sie in französischer und englischer Sprache gedruckt worden waren,
kehrten sie zu uns zurück.
Zwar hat Brunner die Emigration erdulden müssen (er war
1933 nach Holland geflüchtet), doch blieb ihm das Schicksal seiner Angehörigen
erspart: Seine Frau kam in Ausschwitz um, gemeinsam mit ihrer Tochter. Diese
war mit einem Ausländer verheiratet, denn die Nationalsozialisten nicht „aus
rassischen Gründen“ verfolgten, und hätte sich vermutlich retten können. Doch
wirkte bei Brunner Tochter Lotte zweierlei: Sie wollte ihre Mutter nicht allein
lassen, und zugleich blieb sie vom Geiste ihres Vaters geprägt stolze
sokratische Gelassenheit.
Ehe Brunner nach Berlin übergesiedelt war, nämlich in
seinen jungen Hamburger Jahren, hatte er eine literarisch-philosophische
Zeitschrift -- „Zuschauer“ – gegründet, deren Mitarbeiter stab Liliencron und
Dehmel angehörten. Danach
veröffentlichte er fünfzehn Jahre lang keine Zeile. Bis er, der sich den „Mann
Eines Buches“ nannte. 1908 mit der „Lehre von den Geistigen und den Volk“
hervortrat, die damals grosses Aufsehen erregte (deutsch bei Cotta, Stuttgart
1962). Eine „Konzeption“ war gefunden, ein „System“, das, wie er meinte, alle
seine späteren Bücher fortsetzten. Im Übrigen war der eigenwillige
philosophische Denker Meister einer oft pathetischen, „expressionistischen“,
stets leidenschaftlichen Sprache. Ja, er bewertete das schriftstellerische
Element so hoch, dass er, wo nur möglich, die theoretische Darstellung mied.
Ehe sich deutsche Philosophen noch zu seinem 30 jährigen
Todestag und seinem hundertfünften Geburtstag mit Constantin Brunner
auseinandersetzen – es wäre wohl an der Zeit --, mögen Auszüge aus einer Arbeit
über Sokrates ein kleines Beispiel seiner denkerischen Leidenschaft und
Sprachgewalt geben.
Zeitungsartikel 1967 J. M.-M.
Sokratesbüste im Palazzo Massimo alle Terme in Rom, 1. Jahrhundert, Inventarnummer 1236, | Wikipedia |
Sokrates - der erste freie Mann
Ein seltsamer Mann, dieser Sokrates. Das Lachen war in Athen nicht teuer, an allen Ecken lachten über ihn die Athener; und sahen doch bald, dass sie nicht auskamen mit Lachen.
Ein seltsamer Mann, dieser Sokrates. Das Lachen war in Athen nicht teuer, an allen Ecken lachten über ihn die Athener; und sahen doch bald, dass sie nicht auskamen mit Lachen.
Ein seltsamer Mensch war Sokrates schon von aussen, der
Barfussgeher voller Wunderlichkeiten, der Glatzkopf unter allen den
schöngelockten Achaiern, ein ungriechisch, ein unmenschlich lässlicher Mensch,
Silenhaft hässlich: mit Hängebauch, breiten Schultern, Kahlkopf also,
grossdickem Munde, aufgeworfenen Lippen, eingedrückter Stülpnase, stieren
Glotzaugen.
Verschlossen
freilich in dieses nur ungetane Silen Gehäuse ein Gott und gewaltiger, nichts
weniger als silenischer Erotiker; der auch mit so wunderhaft sie erhebender und
läuternder Gewalt erotisch-dämonisch auf schöne Jünglinge wirkte.
Rätselhaft musste er am meisten den Gebildeten
erscheinen, den einseitig so Beschränkten, dass sie, ausserstande, von seiner
Fülle und seinem da Allgemeine umfassenden Sinn zu lernen, ihn nur für einen
Übermässigen, Unbändigen, starrsinnig Ungerechten gegen die wahrhaft grossen
Geister (von einigen weiss man sogar noch die Namen: durch Sokrates; gewöhnlich
werden die wahrhaft grossen Geister der Zeiten, wie auch wohl die unserer Zeit,
mitsamt den Namen, sehr schnell vergessen), dass sie ihn nur für einen extrem
wunderlichen und endlich gar für einen unredlichen und verderblichen Mann zu
halten vermochten.
Sokrates war altväterisch und revolutionär (je nachdem er
dem Neuen oder dem Alten das Gute vorzog); sittenstreng und auch frei, ohne viel nach dem Urteil anderer zu fragen;
gütig und unwirsch, rücksichtslos, spöttisch, streitlustig; von weiser
Besonnenheit bei äusserster Reizbarkeit und Brennbarkeit der Natur; ein
Schweiger und ein Schwätzer; ebenso bescheiden wie selbstbewusst; mässig und
konnte, mit anderen auch unmässig sein (konnte: er war im Trinken nicht zu
besiegen); ernst und machte sich zum Narren -- alles nach der Gelegenheit, und
je nachdem es die anderen in ihm hervorbringen.
So einen sollen wohl die anderen oft unerträglich und
unberechenbar finden; da sie niemals dessen sich bewusst werden, was sie
wissen, und wissen nicht, dass sie nicht wissen, was sie nicht wissen, am
wenigsten kennen sie sich als Ursache verhängnisvoller Wirkungen.
Sokrates erschien ebenso bezaubernd wie zurückstossend
und fremdartig, zu Zeiten seelenentrückt, gegen alles sinnliche Leben in
Verzückung abwesend, lange Stunden gleich einer Bildsäule auf einem Fleck
festgewurzelt, und vernahm in sich eine dämonische Stimme. Aber er war
keineswegs krankhaft, sondern sehr gesund und übergesund, überkraftvoll und
übermütig bis zum Barock; gar nicht phantastisch, vielmehr kaltsinnig und
vernünftig und nicht weniger dialektisch virtuos und spitzig als die Sophisten.
Daher die Verwechslung mit ihnen; wie denn überhaupt dies
die Schuld trägt an der Verwechslung des Volksmässigen mit dem Geistigen: dass
beides für grundverschiedene Denkinhalte der gleichen Formen und Wörter sich
bedient…
Unermesslich scheint des Sprechers Sokrates allgemeine
Wirkung in die Geschichte. Fast ausschliesslich von dem einzigen Sokrates aus
gehen alle diejenigen griechisch-römischen Kulturmomente, die sich später mit
den christlichen zusammenschlossen, solcherart noch nachträglich weisend auf
den merkwürdigsten Griechen mit solchem gewissen Geist, wie er im Prophetismus
des Alten und Neuen Testaments erscheint, und auf die Fussspuren vom Sohn des
athenischen Bildhauers, die hinführen zum Zimmermanns-sohn von Nazareth, zum
anderen, grösseren Sprecher der Welt, der die Wahrheit mit ihren noch schöneren
Worten genannt hat und in noch unweit höherem Masse begriff bildend gewesen
(ohne Philosoph gewesen sein), sprachbildend gewesen, ja, die ganze Kultur
umwandelnd – sie stehen einander nah in der Erkenntnis, darum hat die
Geschichte sie verbunden mit ihren Wirkungen – zugleich aber auch hinweisend
auf das Hier wie Dort der mit diesen Geistern nicht Verwandten und von der
Wahrheit Geschiedenen, für viel Kleines Übereifrigen und für ihre grosse
Angelegenheit so Unbekümmerten, auf die Verlaufenen, die in dem Wald ihres
Wissens nicht so wissen, wie sie das allein Denkens Werte nicht wissen; die
keinen ihrer Buchstaben so wissen, wie sie den Geist nicht wissen.
Gegen diese hatten jene sich erhoben mit ihren holden
Gedanken, mit ihrer grossen Liebe und Barmherzigkeit, mit ihrem geistigen
Anderssein, worauf die ungleichen anderen wiederum gegen jene sich erhoben mit
ihrer bestialisch moralischen Kritik und mit der Gier ihrer Rache am Geistig sein;
die Argen und Ärgeren: weil sie auf solche nicht gehört und solche sie empört
haben! Was soll man von ihnen sagen, als was von ihnen gesagt ist? „Sie wissen
nicht, was sie tun.“ Dem Sokrates geben sie Schierling; und Christus wird,
Nägel durch Hände und Füsse, ans Kreuz geschlagen.
Aber ein Aristophanes unter diesen Lästerern und Mördern?
Unter die egoistisch-pfiffigen, eitlen Sophisten konnte Aristophanes den Mann
rechnen, der so unaussprechlich klar war: den Sokrates, der gleichsam nackt
durchs Leben ging; der, alle gesellschaftlichen Ehrungen verschmähend, jedem
Amt fern bleibend, unbekümmert um seinen Vorteil, um seine häuslichen Frieden,
arm und dennoch ohne Bezahlung, aber unter Hohngelächter und mit Gefährdung
seiner Person philosophierend, endlich siebzig Jahre alt, gestorben ist für die
Verteidigung der Wahrheit und Entlarvung gleissender Lüge, für die
Zusammengehörigkeit seines Lebens mit seinem Lehren, im grossen Krieg und Trotz
gegen die undenkende Menge und ihre gebildeten Vertreter, im Siegertrotz und
Lachen über seine Richter und Mörder, als der allein wahre Richter ihrer
Ungedanken und Verdorbenheit.
Aber auch sein eigener wahrer Richter und ein grosser
Selbstmörder ist Sokrates gewesen; denn, indem er vor dem Gericht, statt, nach
der athenischen Sitte, seine Strafe selber anzusetzen (und er wäre mit einer
geringen davonkommen), sich der höchsten Belohnung würdig erklärte, wusste er
wohl, was er damit über sich brachte. In erhabener Erkenntnis seines Rechtes
und seiner Pflicht zum Märtyrertod zerschlug er mit eigenem Willen das Gefäss
seiner Menschlichkeit, gab er sein Leben hin, ein Verlierer und seliger
Gewinner.
Sokrates war gross, denn ihm war die Idee das unmittelbar
Empirische, das Wirkliche seiner selbst, die einzige wirkliche Wirklichkeit;
und war sehr gross, da er, der nach der Idee zu leben verstand, trotzdem auch
nach der Idee zu leben verstand, trotzdem auch nach der Idee nicht länger leben
wollte in der Menschwelt, welche der Idee und ihrem Leben verschlossen bleibt. Für
unnütz und jugendgefährlich diesen Sokrates zu halten: den reinsten und
freisten Mann Griechenlands, frei also, wie sein Leben und Sterben beweist,
auch gegenüber den anderen, trotz der Macht ihres Andersseins, den ersten
freien Mann unserer Kulturwelt!
Diesen Sokrates hatte Aristophanes angeklagt; von der
ergötzlich verleumderischen Dichtung, von den „Wolken“ reden wir,
von der Komödiendichtung, die
mitgeholfen zur nicht-erdichteten Tragödie
(dreiundzwanzig Jahre später);
wir reden von der Untat
später); wir reden von
der Untat der
Dichtung an der
Philosophie und jenen ungeheuren Falle, wo ein grosser Geistiger
gegen den so viel
grösseren stand wie ein
blindgeborener,
blindrasender Volksmensch. Als elendesten,
tollsten, windigsten, sophistischen Gaukler hatte Aristophanes diesen Mann,
Sokrates, angeklagt: den Sokrates, der den Sophisten viel ärgeren Schaden antat
als der Komiker Aristophanes (der nur dem Sokrates schadete) und selber die
Sophisten mutwilliger und spassiger beim Schopfe zu nehmen wusste; den
Ironiker, Sarkastiker, den
mächtigeren Komiker Sokrates, der frisch von der Stelle weg, ex tempore
des Leben vor ihm als mit seinen unmittelbar handelnden Personen, zu komödieren
verstand und über sie kam wie Gewitterregen über fliegenden Staub und auf alle
Art, mit so unvergleichlich viel höherer Gewalt, für dasselbe Ideal kämpfte wie
der Dichter Aristophanes, der in späteren Jahren des Sokrates Freund geworden
war.
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