Donnerstag, 20. Juni 2013

Sokrates - der erste freie Mann


Constantin Brunner (1862-1937)

Vor dreissig Jahren – am 27. August 1937 – starb in Holland ein deutscher Philosoph, dessen im Geiste Spinozas errichtete Gedankenwelt weithin Bewunderung erregt, während er in seinem Heimatlande vergessen wurde: Constantin Brunner.  Unsere Lexika tun ihn mit ein paar Zeilen ab oder verschweigen ihn ganz. Indessen dient das „International-Constantin-Brunner-Institut“ mit dem Sitz im Haag und mit vielen „Brunner-Gesellschaften“ in der westlichen Welt seinem Werk.

Constantin Brunner wurde als Sohn einer angesehenen jüdischen Familie 1862 zu Altona geboren. Nach dem Studium der Geschichte und Philosophie schien ihm eine grosse akademische Karriere zu eröffnen. Da sagte er der Kant’schen Philosophie ab (der er später manches Unrecht tat), beschloss, ein Einzelner zu bleiben und wurde ein „grosser Unbequemer“. (Er war übrigens reich und konnte es sich leisten.)

 Rathenau war in Deutschland einer seiner frühen Bewunderer. Goebbels hat seine Werke verbrannt. Erst nachdem sie in französischer und englischer Sprache gedruckt worden waren, kehrten sie zu uns zurück.

Zwar hat Brunner die Emigration erdulden müssen (er war 1933 nach Holland geflüchtet), doch blieb ihm das Schicksal seiner Angehörigen erspart: Seine Frau kam in Ausschwitz um, gemeinsam mit ihrer Tochter. Diese war mit einem Ausländer verheiratet, denn die Nationalsozialisten nicht „aus rassischen Gründen“ verfolgten, und hätte sich vermutlich retten können. Doch wirkte bei Brunner Tochter Lotte zweierlei: Sie wollte ihre Mutter nicht allein lassen, und zugleich blieb sie vom Geiste ihres Vaters geprägt stolze sokratische Gelassenheit.

Ehe Brunner nach Berlin übergesiedelt war, nämlich in seinen jungen Hamburger Jahren, hatte er eine literarisch-philosophische Zeitschrift -- „Zuschauer“ – gegründet, deren Mitarbeiter stab Liliencron und Dehmel angehörten.  Danach veröffentlichte er fünfzehn Jahre lang keine Zeile. Bis er, der sich den „Mann Eines Buches“ nannte. 1908 mit der „Lehre von den Geistigen und den Volk“ hervortrat, die damals grosses Aufsehen erregte (deutsch bei Cotta, Stuttgart 1962). Eine „Konzeption“ war gefunden, ein „System“, das, wie er meinte, alle seine späteren Bücher fortsetzten. Im Übrigen war der eigenwillige philosophische Denker Meister einer oft pathetischen, „expressionistischen“, stets leidenschaftlichen Sprache. Ja, er bewertete das schriftstellerische Element so hoch, dass er, wo nur möglich, die theoretische Darstellung mied.

Ehe sich deutsche Philosophen noch zu seinem 30 jährigen Todestag und seinem hundertfünften Geburtstag mit Constantin Brunner auseinandersetzen – es wäre wohl an der Zeit --, mögen Auszüge aus einer Arbeit über Sokrates ein kleines Beispiel seiner denkerischen Leidenschaft und Sprachgewalt geben. 

Zeitungsartikel 1967  J. M.-M.
Sokratesbüste im Palazzo Massimo alle Terme in Rom, 1. Jahrhundert, Inventarnummer 1236, 
Wikipedia




Sokrates - der erste freie Mann 

 Ein seltsamer Mann,  dieser Sokrates. Das Lachen war in Athen nicht teuer, an allen Ecken lachten über ihn die Athener; und sahen doch bald, dass sie nicht auskamen mit Lachen.

Ein seltsamer Mensch war Sokrates schon von aussen, der Barfussgeher voller Wunderlichkeiten, der Glatzkopf unter allen den schöngelockten Achaiern, ein ungriechisch, ein unmenschlich lässlicher Mensch, Silenhaft hässlich: mit Hängebauch, breiten Schultern, Kahlkopf also, grossdickem Munde, aufgeworfenen Lippen, eingedrückter Stülpnase, stieren Glotzaugen.

 Verschlossen freilich in dieses nur ungetane Silen Gehäuse ein Gott und gewaltiger, nichts weniger als silenischer Erotiker; der auch mit so wunderhaft sie erhebender und läuternder Gewalt erotisch-dämonisch auf schöne Jünglinge wirkte.

Rätselhaft musste er am meisten den Gebildeten erscheinen, den einseitig so Beschränkten, dass sie, ausserstande, von seiner Fülle und seinem da Allgemeine umfassenden Sinn zu lernen, ihn nur für einen Übermässigen, Unbändigen, starrsinnig Ungerechten gegen die wahrhaft grossen Geister (von einigen weiss man sogar noch die Namen: durch Sokrates; gewöhnlich werden die wahrhaft grossen Geister der Zeiten, wie auch wohl die unserer Zeit, mitsamt den Namen, sehr schnell vergessen), dass sie ihn nur für einen extrem wunderlichen und endlich gar für einen unredlichen und verderblichen Mann zu halten vermochten.

Sokrates war altväterisch und revolutionär (je nachdem er dem Neuen oder dem Alten das Gute vorzog); sittenstreng und auch frei,  ohne viel nach dem Urteil anderer zu fragen; gütig und unwirsch, rücksichtslos, spöttisch, streitlustig; von weiser Besonnenheit bei äusserster Reizbarkeit und Brennbarkeit der Natur; ein Schweiger und ein Schwätzer; ebenso bescheiden wie selbstbewusst; mässig und konnte, mit anderen auch unmässig sein (konnte: er war im Trinken nicht zu besiegen); ernst und machte sich zum Narren -- alles nach der Gelegenheit, und je nachdem es die anderen in ihm hervorbringen.

So einen sollen wohl die anderen oft unerträglich und unberechenbar finden; da sie niemals dessen sich bewusst werden, was sie wissen, und wissen nicht, dass sie nicht wissen, was sie nicht wissen, am wenigsten kennen sie sich als Ursache verhängnisvoller Wirkungen.

Sokrates erschien ebenso bezaubernd wie zurückstossend und fremdartig, zu Zeiten seelenentrückt, gegen alles sinnliche Leben in Verzückung abwesend, lange Stunden gleich einer Bildsäule auf einem Fleck festgewurzelt, und vernahm in sich eine dämonische Stimme. Aber er war keineswegs krankhaft, sondern sehr gesund und übergesund, überkraftvoll und übermütig bis zum Barock; gar nicht phantastisch, vielmehr kaltsinnig und vernünftig und nicht weniger dialektisch virtuos und spitzig als die Sophisten.

Daher die Verwechslung mit ihnen; wie denn überhaupt dies die Schuld trägt an der Verwechslung des Volksmässigen mit dem Geistigen: dass beides für grundverschiedene Denkinhalte der gleichen Formen und Wörter sich bedient…

Unermesslich scheint des Sprechers Sokrates allgemeine Wirkung in die Geschichte. Fast ausschliesslich von dem einzigen Sokrates aus gehen alle diejenigen griechisch-römischen Kulturmomente, die sich später mit den christlichen zusammenschlossen, solcherart noch nachträglich weisend auf den merkwürdigsten Griechen mit solchem gewissen Geist, wie er im Prophetismus des Alten und Neuen Testaments erscheint, und auf die Fussspuren vom Sohn des athenischen Bildhauers, die hinführen zum Zimmermanns-sohn von Nazareth, zum anderen, grösseren Sprecher der Welt, der die Wahrheit mit ihren noch schöneren Worten genannt hat und in noch unweit höherem Masse begriff bildend gewesen (ohne Philosoph gewesen sein), sprachbildend gewesen, ja, die ganze Kultur umwandelnd – sie stehen einander nah in der Erkenntnis, darum hat die Geschichte sie verbunden mit ihren Wirkungen – zugleich aber auch hinweisend auf das Hier wie Dort der mit diesen Geistern nicht Verwandten und von der Wahrheit Geschiedenen, für viel Kleines Übereifrigen und für ihre grosse Angelegenheit so Unbekümmerten, auf die Verlaufenen, die in dem Wald ihres Wissens nicht so wissen, wie sie das allein Denkens Werte nicht wissen; die keinen ihrer Buchstaben so wissen, wie sie den Geist nicht wissen.

Gegen diese hatten jene sich erhoben mit ihren holden Gedanken, mit ihrer grossen Liebe und Barmherzigkeit, mit ihrem geistigen Anderssein, worauf die ungleichen anderen wiederum gegen jene sich erhoben mit ihrer bestialisch moralischen Kritik und mit der Gier ihrer Rache am Geistig sein; die Argen und Ärgeren: weil sie auf solche nicht gehört und solche sie empört haben! Was soll man von ihnen sagen, als was von ihnen gesagt ist? „Sie wissen nicht, was sie tun.“ Dem Sokrates geben sie Schierling; und Christus wird, Nägel durch Hände und Füsse, ans Kreuz geschlagen.

Aber ein Aristophanes unter diesen Lästerern und Mördern? Unter die egoistisch-pfiffigen, eitlen Sophisten konnte Aristophanes den Mann rechnen, der so unaussprechlich klar war: den Sokrates, der gleichsam nackt durchs Leben ging; der, alle gesellschaftlichen Ehrungen verschmähend, jedem Amt fern bleibend, unbekümmert um seinen Vorteil, um seine häuslichen Frieden, arm und dennoch ohne Bezahlung, aber unter Hohngelächter und mit Gefährdung seiner Person philosophierend, endlich siebzig Jahre alt, gestorben ist für die Verteidigung der Wahrheit und Entlarvung gleissender Lüge, für die Zusammengehörigkeit seines Lebens mit seinem Lehren, im grossen Krieg und Trotz gegen die undenkende Menge und ihre gebildeten Vertreter, im Siegertrotz und Lachen über seine Richter und Mörder, als der allein wahre Richter ihrer Ungedanken und Verdorbenheit.

Aber auch sein eigener wahrer Richter und ein grosser Selbstmörder ist Sokrates gewesen; denn, indem er vor dem Gericht, statt, nach der athenischen Sitte, seine Strafe selber anzusetzen (und er wäre mit einer geringen davonkommen), sich der höchsten Belohnung würdig erklärte, wusste er wohl, was er damit über sich brachte. In erhabener Erkenntnis seines Rechtes und seiner Pflicht zum Märtyrertod zerschlug er mit eigenem Willen das Gefäss seiner Menschlichkeit, gab er sein Leben hin, ein Verlierer und seliger Gewinner.

Sokrates war gross, denn ihm war die Idee das unmittelbar Empirische, das Wirkliche seiner selbst, die einzige wirkliche Wirklichkeit; und war sehr gross, da er, der nach der Idee zu leben verstand, trotzdem auch nach der Idee zu leben verstand, trotzdem auch nach der Idee nicht länger leben wollte in der Menschwelt, welche der Idee und ihrem Leben verschlossen bleibt. Für unnütz und jugendgefährlich diesen Sokrates zu halten: den reinsten und freisten Mann Griechenlands, frei also, wie sein Leben und Sterben beweist, auch gegenüber den anderen, trotz der Macht ihres Andersseins, den ersten freien Mann unserer Kulturwelt!

Diesen Sokrates hatte Aristophanes angeklagt; von der ergötzlich verleumderischen Dichtung, von den „Wolken“  reden wir,  von der Komödiendichtung,  die mitgeholfen zur nicht-erdichteten Tragödie  (dreiundzwanzig Jahre später);  wir reden von  der  Untat  später);  wir reden  von  der  Untat  der  Dichtung  an  der  Philosophie und jenen ungeheuren Falle, wo ein grosser  Geistiger  gegen  den so  viel  grösseren stand  wie  ein  blindgeborener,  blindrasender  Volksmensch. Als elendesten, tollsten, windigsten, sophistischen Gaukler hatte Aristophanes diesen Mann, Sokrates, angeklagt: den Sokrates, der den Sophisten viel ärgeren Schaden antat als der Komiker Aristophanes (der nur dem Sokrates schadete) und selber die Sophisten mutwilliger und spassiger beim Schopfe zu nehmen wusste; den Ironiker,  Sarkastiker,  den  mächtigeren Komiker Sokrates, der frisch von der Stelle weg, ex tempore des Leben vor ihm als mit seinen unmittelbar handelnden Personen, zu komödieren verstand und über sie kam wie Gewitterregen über fliegenden Staub und auf alle Art, mit so unvergleichlich viel höherer Gewalt, für dasselbe Ideal kämpfte wie der Dichter Aristophanes, der in späteren Jahren des Sokrates Freund geworden war.





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