Er ist 19 Jahre alt und unheilbar krank. Vor seinem Tod will er eine
Heldentat begehen: Er erschiesst den österreichischen Thronfolger.
- „Betrachten sie sich als schuldig?“ fragen die Richter dreieinhalb Monate nach dem Attentat.
- „Ich bin kein Krimineller. Ich denke, ich bin gut““, antwortet er. „Ich zerstörte das Böse."
- Wie wollten sie das erreichen?
- „Mit terroristischen Mitteln.“
- „Das Volk ist verarmt, es wird wie Vieh gehalten“, sagt Gavrilo Princip den Richtern am 12. Oktober 1914. „Dafür wollte ich mich rächen, ich bereue gar nichts“.
Tuberkulose
Für die Österreicher hingegen ist Gavrilo Princip ein gemeiner Mörder. Und die Kroaten betrachten ihn als einen ferngesteuerten Terroristen, der den 1. Weltkrieg ausgelöst hat.
Gavrilo Prinzip, ein 19-jähriger serbisch-stämmiger intelligenter Student, leidet an einer schweren Tuberkulose. Er weiss, dass er nicht mehr lange leben würde. So will er die Zeit nutzen. Und er nutzt sie.
Er will die verhassten Österreicher vertreiben. Er will ein vereintes Jugoslawien.
- „Ich bin ein jugoslawischer Nationalist“, sagt er gemäss Vernehmungsprotokoll. „Ich glaube an die Vereinigung aller Südslawen.“
- „Ich will von oben her zerstören und jene beseitigen, die Böses tun und einer Vereinigung im Wege stehen“.
- „Österreich behandelt uns schlecht, Österreich ist nicht nötig“.
- „Wann haben sie zuerst erfahren, dass der Kronprinz nach Sarajevo kommt?“ fragen die Richter.
- „Als ich im März nach Belgrad kam, las ich es in den Zeitungen, ich glaube, in den deutschen (deutschsprachigen?) Zeitungen.“
- „Haben sie gleich den Entschluss gefasst, ihn zu töten“
- „Ja“.
Der Student
Auch die „Schwarze Hand“, (Slogan: „Vereinigung oder Tod“) erfährt von den Mordabsichten und will sich beteiligen. Es handelt sich um eine nationalistische serbische Untergrundorganisation, die letztlich von einem Gross-Serbien träumt.
- „Hatten sie je eine Pistole in der Hand?“ wird Princip am 12. Oktober gefragt.
- „Ich hatte mit einer Browning geübt“.
Ende Mai erhalten Princip und seine zwei Vertrauten vier Pistolen mit Munition und sechs Bomben aus serbischen Zeughäusern.
Und: Sie erhalten ein Fläschchen, das angeblich Zyankali enthält. Alle drei wollen sich nach dem Attentat töten. Lange würden sie ohnehin nicht mehr leben.
Einen Monat vor dem Anschlag reisen die drei von Belgrad nach Bosnien. Der serbische Geheimdienst hilft ihnen beim heimlichen Überqueren der serbisch-bosnischen Grenze. Über die nordbosnische Stadt Tuzla gelangen sie nach Sarajevo. In Tuzla schliesst sich dem Trio ein vierter Mann an: der 23-jährige Lehrer Danilo Ilić. Er wird später gehenkt.
Karte: Journal21/stepmap.de
Der Tag des Besuchs naht. Plötzlich kriegt die „Schwarze Hand“ kalte Füsse. Ilić erhält von Belgrad den Befehl, alles abzublasen. Man fürchtet, die Serben würden nach dem Attentat einer erbarmungslosen Verfolgungsjagd ausgesetzt. Dazu wird es kommen.
Doch Princip hat nichts zu verlieren. Er besteht darauf, das Attentat durchzuführen. Inzwischen haben sich weitere Verschwörer der Gruppe angeschlossen, unter anderen der muslimische Serbe Muhamed Mehmedbašić.
Der letzte Tag im Leben des Thronfolgers
Franz Ferdinand
Der Besuch des Thronfolgers sollte beitragen, das angeschlagene Image der Österreicher aufzupolieren. Trotz Warnung sind die Sicherheitsvorkehrungen nachlässig. Das geht aus einem späteren Bericht des erzherzöglichen Marschalls Oberst Graf Rummerskirch hervor.
Im offenen Wagen
Der Konvoi besteht aus sechs Automobilen. Die Fahrzeuge sollen entlang des Miljacka-Flusses zum Rathaus fahren. Im ersten offenen Auto sitzen der Bürgermeister und der Polizeichef. Im zweiten offenen Auto befinden sich Franz Ferdinand und Sophie. Ihnen gegenüber sitzt der österreichische Statthalter Oskar Potiorek, ein Serben-Hasser. Er ist Oberkommandierender der österreichischen Balkanstreitkräfte.
- „Ich wusste aus der „Bosnien-Post“ und dem „Tagblatt“ ganz genau, wo die Wagen durchfahren“, wird Princip später sagen.
Čabrinović und der 27-jährige muslimische Serbe Muhamed Mehmedbašić sind bei der Ćumurija-Brücke stationiert. Die andern fünf Attentäter stehen entlang der Route bis hin zur Kaiser-Brücke.
Die Bombe prallt am Arm des Thronfolgers ab
Jetzt sollte Franz Ferdinand sterben. Die Kolonne fährt an Muhmed Mehmedbašić vorbei. Geplant war, dass er eine Bombe in den Wagen wirft. Doch das tut er nicht. Später rechtfertigt er sich damit, dass er den Thronfolger nicht erkannt habe.
Jetzt wirft Čabrinović seine Bombe in Richtung des Wagens. Franz Ferdinand hebt den Arm, um seine Frau zu schützen. Die Bombe prallt vom Arm des Thronfolgers ab, fällt hinter das Auto und explodiert vor dem dritten Wagen der Kolonne. Mehrere Personen werden verletzt.
Zyankali und Sprung in den Fluss
Čabrinović, der Bombenwerfer, schluckt das Zyankali und springt in den Miljacka-Fluss. Doch das Gift ist alt und wirkt nicht – und der Fluss ist nicht tief. Die Menge fasst ihn und will ihn lynchen. Er wird verhaftet. Er wird 1916 im Kerker an Tuberkulose sterben.
- „Die Leute begannen herumzurennen … Ich ging zur Latin-Brücke. Dort hörte ich, dass der Bombenanschlag fehlschlug.“
Der Konvoi kommt im Rathaus an. Franz Ferdinand ist ausser sich. Er unterbricht die Begrüssungsrede des Bürgermeisters: "Warten Sie einen Augenblick. Ich komme nach Sarajevo als Gast und man empfängt mich hier mit Bomben! Jetzt können Sie reden."
Sophie und Franz Ferdinand beim Verlassen des Ratshauses
Nach dem Empfang fährt die Wagenkolonne über die Lateinbrücke. Dort steht Princip.
Das letzte Bild des Thronfolgerpaars. Wenige Sekunden später fallen Schüsse
- „Ich nahm meinen Revolver und gab aus einer Entfernung von vier oder fünf Schritten zwei Schüsse auf Ferdinand ab“.
Zeitgenössische Zeichnung
- „Was ist mit Sophie?“ fragen die Richter.
- „Ich wollte sie nicht töten. Ich tötete sie zufällig, das war ein Unfall. Ich wollte Potiorek töten. Er tut böse Sachen. Er ist der Initiator von Sondermassnahmen und Sondergerichten.“
- „Ich hob den Arm, doch die Polizisten und Offiziere packten und schlugen mich. Ich blutete und sie brachten mich auf die Polizeistation. Dann schlugen sie mich erneut.“
„Die richtige Hetze gegen die Serben und alle, die mit ihnen in Verbindung standen, begann erst jetzt. Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger. Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, die Dämme weggeräumt. Wie oft in der menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub, ja auch der Mord, stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, dass sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt wurden.“
Vom 12. Oktober bis 23. Oktober 1914 findet in Sarajevo der Gerichtsprozess gegen 25 Verschwörer statt. Die Anklage lautet auf Hochverrat und Meuchelmord.
Prozess: Gavrilo (3. von rechts)
Franz Ferdinand als Gessler?
Spricht man als Schweizer in Sarajevo mit serbienstämmigen Bosniern über Gavrilo Princip, hört man immer wieder: „Unser Wilhelm Tell“. Auch Wilhelm Tell habe gegen österreichische Besatzer gekämpft – mit Erfolg. Franz Ferdinand als Gessler?
Gavrilo Princip nach dem Attentat
Katholisches Kroatien, katholisches Österreich
Die Kroaten bezeichnen Princip als von Serbien beauftragten Handlanger. Die Serben standen bei den Kroaten immer im Verruf, ihren Machtbereich ausdehnen zu wollen. Zudem hatten die katholischen kroatischen Bosnier immer ein besseres Verhältnis zum katholischen Österreich als die orthodoxen Bosnier oder die muslimischen Bosniaken.
Zwar hat Österreich auf dem Balkan viel Unheil angerichtet. Aber nicht alles war nur schlecht. Die Österreicher waren tolerant gegenüber allen drei Religionen, förderten die Infrastruktur, bauten Eisenbahnen, Strassen und elektrifizierten Städte und Dörfer. Princip sah das anders. Er berichtet von schweren Verfehlungen der Besatzer. Vor allem die kriegerischen Serben waren den Österreichern ein Dorn im Auge.
- „Ich bin der Sohn eines Dorfes“, sagte er seinen Richtern, „ich weiss, wie die Lebensbedingungen in den Dörfern sind. Dafür wollte ich mich rächen“.
- „Niemand hat mich zur Tat angestiftet. Ich fasste den Entschluss allein, als ich die Zeitung las“.
Haben die Serben Princip angeheuert und ihn zum Verbrechen ermuntert? wie die Österreicher und Kroaten sagen. Oder hat Princip den Plan gefasst und der serbische Geheimnis ist auf den Zug augesprungen? Das ist die Meinung vieler Historiker.
„Glaubte man in ihren Kreisen, es wäre ein Vorteil für Bosnien, von Serbien annektiert zu werden?“ fragen die Richter später.
- “Der Plan war, alle Südslaven zu vereinen. Es war klar, dass Serbien als freier Staat der Südslaven die moralische Pflicht hatte, bei der Vereinigung zu helfen. Serbien sollte eine Vorreiterrolle spielen, wie dies der Piemont bei der Vereinigung Italiens tat.“
Die Serben hingegen sagen, Österreich habe das Attentat zum Vorwand genommen, um den lange geplanten Krieg zu beginnen. Hätte der Mord nicht stattgefunden, hätte der Krieg – vielleicht etwas später – dennoch begonnen. Viele Historiker teilen diese Sicht.
Man findet immer einen Vorwand, um in den Krieg zu ziehen. Hätten die Österreicher den Krieg vermeiden wollen, hätten sie Serbien nicht ein Ultimatum gestellt, das für jeden souveränen Staat völlig inakzeptabel war. Auch Deutschland war in Kriegsstimmung. Mit Hurra-Rufen zogen dann die Deutschen in den Krieg.
"Unsere Geister schleichen durch Wien"
Gavrilo Princip wird in eine enge, feuchte Zelle gesperrt. Er ist ständig angekettet. Ein Mal pro Monat kriegt er nichts zu essen. Besucher darf er keine empfangen. Immer am 28. Juni wird er in eine dunkle Kammer gesperrt. Seine Krankheit schreitet fort, bald wird ihm ein Arm amputiert. Er stirbt 1918 an Tuberkulose.
Nach seinem Tod findet man – mit einem Löffel eingeritzt – an der Kerkerwand diesen Spruch: „Unsere Geister schleichen durch Wien und raunen durch die Paläste und lassen die Herren erzittern.“
Damit hat er nicht unrecht. Österreich verliert den Krieg und die Monarchie. 1918 entsteht Jugoslawien, wie es Princip gewollt hatte. Vor 23 Jahren bricht der Staat wieder auseinander. Sein Heimatland Bosnien ist jetzt unabhängig. Doch was ist das für ein Bosnien heute? Ein gespaltenes Land, das nicht auf die Beine kommt.
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