Donnerstag, 30. Mai 2013

"Dear Henry"


Helmut Heinrich Waldemar Schmidt (* 23. Dezember 1918 in Hamburg) ist ein deutscher Politiker der SPD. Er war von 1974 bis 1982 der fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
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 "Dear Henry"

Helmut Schmids Brief zum 90. Geburtstag von Henry Kissinger

es hat mir sehr leid getan, dass ich auf Nancys Brief und auf Ihre Einladung mit Absagen reagieren musste. Tatsache ist, dass ich mir keine grössere Reise mehr zumuten kann. Immerhin kennen wir beide uns seit mehr als einem halben Jahrhundert. Sie waren schon in den dreissiger Jahren ein amerikaner geworden, ich bin ein Deutscher geblieben; Sie wurden ein amerikanischer und ich ein deutscher Soldat. Dies hat unsere weiteren Lebensweg bestimmt. Es hat auch unsere Meinungsverschiedenheiten bestimmt. Nicht jedoch hat es Ihre Vernunft eingeschränkt und ebenso wenig meine. Und auf dem Felde der sachlichen Vernunft haben wir uns viele Male getroffen und sind Viele male zu gleichen oder ähnlichen Urteilen gelangt. Sie sind ein Mann von ausgezeichneter Urteilkraft und ebenso grossem Bewusstsein der eigenen Verantwortung.
Für mich war die kurze Zeit in den siebziger Jahren die ertragreichste Periode in meinem Leben, als Jerry Ford Präsident war, und Sie waren sein Aussenminister. (Etwas später hat es dann dank George Schultz eine Einigung über die Mittelstreckenraketen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow gegeben.)
Aber schon in den späten 1940er Jahren hatten die USA Deutschland eine neue Währung gegeben. Die USA haben Deutschland in den Marshallplan eingeschlossen, sie haben die französische Einladung in die Europäische Gemeinschaft unterstützt - und ohne die tatkräftige Hilfe von George Bush Vater und dessen Aussenminister wäre vermutlich die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten und die Befreiung der östlichen Hälfte Europas nicht zustande gekommen.
Insgesamt schulden wir Deutschen Euch Amerikanern sehr grossen Dank. Wir schulden auch den Franzosen und Charles de Gaulle und Jean Monnet Dank. Und in diesen Dank möchte ich ausdrücklich Sie einschliessen.

Heute ist die Menschheit nahezu fünfmal so zahlreich wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Hinterlassenschaft jenes Jahrhunderts ist atemberaubend: nicht nur das Auto und das Flugzeug, sondern auch die Atombombe - darüber hinaus die Computer, die Satelliten und die Globalisierung aller Ökonomie. Die Welt ist unübersichtlich geworden, ihre weitere Entwicklung ist nicht leicht vorherzusehen.
Sie haben durch viele Bücher und Vorträge versucht, Ihren Zeitgenossen und Ihren Lesern die Voraussicht auf kommende Zeiten zu erleichtern. Ihr jüngstes Buch On China habe ich mit besonderem Interesse gelesen. Dabei hat mich sehr Ihr Respekt berührt gegenüber der 4000 Jahre alten chinesischen Hochkultur. Ich frage mich, wieso dies die einzige Hochkultur ist, die gleichzeitig Vitalität entfaltet. Nicht die Ägypter, nicht die Perser, nicht die Kulturen in Mesopotamien, nicht die Hellenen, nicht die Römer, nicht die Inkas oder die Azteken oder die Tolteken - wohl aber die Chinesen.
Sie haben durch Jahrtausende ihre Kultur bewahren können - und sie schreiben heute in der ökonomischen Realität Rekorde. Wieso die Chinesen dazu in der Lage sind, versuche ich mir mit der Abwesenheit einer verbindlichen Religion zu erklären.
Die Chinesen kommen nicht in den Himmel, auch nicht in die Hölle, sie sind erstaunlich wenig religiös, sie sind diesseitsorientiert.
Aber wen schreibeich dies? Ihr Buch lässt grossen Respekt gegenüber der chinesischen Hochkultur erkennen, ein Respekt, den ich teile. Gegen Ende meines Lebens habe ich noch (begleitet von Arzt und Pflegerin) einen letzten Besuch in China gemacht. Ich habe Lee Kuan Yew und Zhu Rongji getroffen; wir haben über Sie gesprochen, über Amerika, über Europa und über die Welt. Amerika kam bei diesem Gespräch in positiver Weise ins Bild.
Liebe Henry, zu Ihrem 90. Geburtstag kommen hier meine herzlichen Wünsch!
 
Stets Ihr H. Schmidt
 
DIE ZEIT N. 23 POLITIK 9
29. MAI 2013

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