Dienstag, 9. September 2014

Picasso - Gertrude Stein


G. S.
Gertrude Stein sagte einmal zu mir:
"Alle Menschen haben, so lange
Sie jung sind etwas Geniales. Es
Besteht darin, dass sie zuhören können.
Sie können zuhören und
Gleichzeitig sprechen. Dann werden
sie Alter, und viele von ihnen
werden müde und hören immer weniger
zu. Einige aber, sehr wenige,
hören weiterhin zu. Und schliesslich,
wenn sie ganz alt geworden
sind, hören auch sie nicht mehr
zu…"
Bis in ihre letzten Lebensjahre hörte
Gertruds Stein allen zu, die zu ihr
kamen, hörte zu, "wie  ihr Wissen
aus ihnen kam". Hunderte unserer
Soldaten gingen spottend und ungläubig,
aber gedrängt von ihren
Kameraden, nach Paris, "um den
Eiffel-Turm und Gertrude Stein zu
sehens". Sie besuchten sie, und
dann erlebten sie, dass die fröhlichen
und herausfordernden Augen
auf sie gerichtet waren, spürten jene
Aufmerksamkeit, die von Ihnen
Nicht weniger forderte als das
Geniale in ihnen. Sowohl Ihre Gesellschaft
Als auch Ihre Bücher waren
Nicht für diejenigen, die das zuhörens
müde geworden waren. Es war
Eine Ironie, dass sie Ihr Werk In
Einer Welt schuf, in der die Menschen
Ausvielerlei Gründen und aus
Vielen abstossenden Gründen so
Müde geworden sind.
Thornton Wilder
Gertrude Stein:   Picasso 
Im neunzehnten wurde nur in Frankreich und nur von Franzosen gemalt; sonst gab es keine Malerei; im zwanzigsten Jahrhundert wurde in Frankreich nur von Spaniengemalt.
Im neunzehnten Jahrhundert entdeckten die Maler die Notwendigkeit, stets ein Modell vor sich zu haben; im zwanzigsten Jahrhundert entdeckten sie, dass man gar kein Modell anschauen darf. Ich erinnere mich noch gut, es war zwischen 1904 und 1908, als das Publikum von uns oder von ihnen gezwungen wurde, Picassos Zeichnungen zu betrachten; dabei ergab sich die erstaunliche Tatsache, dass alle und auch wir nichts anderes sagen konnten, als dass seine Leistungen so wunderbar waren, als ob er ein Modell gehabt hätte, obwohl er alles aus dem Kopf gezeichnet hatte.  Paris, und hier geriet er – das war im Jahr 1900 – in einen Kreis von Malern, die alles, was sie konnten, dadurch gelernt hatten, dass sie die Dinge sahen, die sie betrachteten. Von Seurat bis Courbet schauten sie alle den Augen, und da Seurats Augen angesichts dessen, was sie wahrnahmen, zu zittern begannen, zweifelte er allmählich, ob er beim Schauen sehen könne. Auch Matisse begann an den Wahrnehmungen seiner Augen zu zweifeln. Hier war also eine Welt bereit für Picasso, der sich nicht nur die ganze spanische Malerei in sich hatte, sondern auch den spanischen Kubismus, der in Spanien zum Alltagsleben gehört.
Sein Vater war Akademieprofessor in Spanien, und Picasso schrieb das Malen, wie andere Kinder das Abc schreiben. Von klein auf zeichnete er; es waren nicht die Zeichnungen eines Kindes, sondern die Zeichnungen eines geborenen Malers.
Seine Zeichnungen gaben nicht geschaute Dinge wieder, sondern sie drückten die Dinge aus, kurz, für ihn waren es Worte.
Das Zeichnen bedeutete ihm von jeher das einzige Mittel, sich auszudrücken, zu reden – und er redet ziemlich viel.
Äusserlich  ähnelt  Picasso seiner Mutter, deren Namen er schliesslich annahm. In Spanien ist es üblich, den Namen des Vaters und der Mutter zu tragen. Picassos Vater hiess Ruiz,  seine Mutter Picasso;  nach spanischen Brauch lautete sein Name Pablo Picasso y Ruiz,  und sein ersten Bilder waren „Pablo Ruiz“ signiert; aber natürlich war "Pablo Picasso" ein besserer Name, zumal "Pablo Picasso y Ruiz" eine allzu lange Signatur  "Pablo Picasso".
Der Namen Picasso ist italienischen Ursprung; wahrscheinlich stammte die Familie seiner Mutter aus Genua und kam über Palma de Mallorca nach Spanien. Die Mutter ist wie Picasso klein und robust, mit kräftigem Körper, dunkler Haut, glattem, nicht sehr feinem, fast schwarzem Haar.  Anderseits pflegte Picasso zu sagen, sein Vater sei wie ein Engländer, worauf Vater und Sohn gleicherweise stolz waren. Sein Vater war gross, hatte rötliches Haar und das ehrfurchtgebietende Wesen eines Engländers.
Picasso und seine Schwester Lola waren die einzigen Kinder.
Als fünfzehnjähriger malte er sie, und diese Ölporträts sind die vollendeten Werke eines geborenen Malers.
Picasso wurde am 25. Oktober 1881 in Málaga geboren; aber er wuchs grösstenteils in Barcelona auf, wo sein Vater bis zum Lebensende an der Kunstakademie lehrte, und wo die Mutter mit Lola zusammen bis zu ihrem Tode blieb.
Picasso hingegen ging, wie gesagt, mit neunzehn Jahren nach Paris, das ihm, von seltenen und kurzen Reisen nach Spanien abgesehen, zur Heimat geworden ist.
Er war in Paris.
In Paris befreundete er sich mehr mit Schriftstellern als mit Malern – wozu brauchte er Malerfreunde, da er malen konnte, wie nur er es konnte? Es lag klar zutage, dass er im Alltagsleben keine Maler benötigte, und das galt für sein ganzes Dasein.
Er brauchte Ideen – wie jedermann – aber nicht Ideen zum Malen, nein, er musste die Menschen kennenlernen, die an Ideellem allgemein Anteil nahmen; doch um zu malen, benötigte er kein Wissen; dass alles war ihm von Natur gegeben.
So befreundete er sich gleich zu Beginn mit Max Jacob und kurz darauf mit Guillaume Apollinaire und Andre Salmon; später lernte er mich kennen, dann auch Jean Cocteau und noch viel später die Surrealisten – dies ist seine literarische Lebensgeschichte. Seine engen Freunde unter den Malern – sie tauchten viel, viel später auf als Max Jacob und dann Guillaume Apollinaire und dann Andre Salmon und dann ich – waren Braque und Derain, die beide ihre literarische Seite hatten, und gerade diese literarische Seite bildete den Grund für ihre Freundschaft mit Picasso.
Die literarischen Ideen eines Malers sind ganz  anders als die literarischen Ideen eines Schriftstellers. Die Egozentrik eines Malers unterscheidet sich stark von der Egozentrik eines Schriftstellers.
Der Maler fasst sich nicht als ein in sich bestehendes Wesen auf, er fasst sich als Spiegelung der Objekte seiner Bilder auf, und er lebt in der Spiegelung seiner Bilder. Der Schriftsteller, der ernste Schriftsteller, fasst sich als ein in sich und durch sich bestehendes Wesen auf; er lebt keineswegs in der Spiegelung seiner Bücher; um zu schreiben, muss er in erster Linie in sich selbst bestehen. Doch damit ein Maler überhaupt imstande ist, zu malen, muss das Bild in erster Linie geschaffen werden; darum ist die Egozentrik des Malers ganz anders als die Egozentrik des Schriftstellers, und darum hatte Picasso, der sich nur in der Malerei ausdrückte, lediglich Schriftsteller zu Freunden.
Die zeitgenössischen Maler in Paris machten ihm wenig Eindruck; aber alle Malerei der jüngsten Vergangenheit berührte ihn tief.
Von jeher interessierte er sich für die Malerei als Beruf. Ein Vorfall, der sich einmal ereignete, ist kennzeichnend. Es gab nämlich in Paris eine amerikanische Bildhauerin, die ihre Bilder und Plastiken im „Salon“ zeigen wollte. Sie hatte ihre Plastiken immer im Salon gezeigt, wo sie hors concours war; doch sie mochte Plastiken und Bilder nicht auf der gleichen Ausstellung zeigen. Deshalb bat sie Fräulein Toklas, ihren Namen für die Bilder zu leisten. Das geschah. Die Bilder wurden als Werke von Fräulein Toklas angenommen; ihr Name stand im Katalog, und wir hatten den Katalog. Am Abend der Vernissage war Picasso bei mir zu Hause. Ich zeigte ihm den Katalog und sagte zu ihm, hier hätten wir nun Alice Toklas, die noch nie gemalt habe und im Salon angenommen sei. Picasso wurde rot; er sagte, dass sei unmöglich, sie habe im geheimen schon lange gemalt. Noch nie, wirklich nichts, erwiderte ich. Unmöglich, sagte er, unmöglich, die Malerei im Salon sei schlechte Malerei; aber wenn ein Mensch als erste Bilder solche Sachen malen könne wie diese erstmals angenommenen Bilder,  nun, dann verstehe er überhaupt nichts mehr. Er solle nicht aufregen, antwortete ich ihm, nein, sie habe die Bilder nicht gemalt, sondern nur ihren Namen dafür hergegeben. Er war immer noch ein wenig verwirrt; nein, wiederholte er, um ein Bild zu malen, müsse man etwas davon verstehen, man müsse, man müsse.
Er war also in Paris, und alle Malerei hatte einen Einfloss auf ihn, und seine literarischen Freunde waren für ihn eine starke Anregung. Doch wurde er gewiss eine Zeitlang mehr Franzose. Vor allem – und das ist recht seltsam – interessierte ihn das  Werk Toulouse-Lautrecs, vielleicht wiederum deshalb, wie auch Lautrec eine literarische Seite hatte.
Ich möchte nachdrücklich betonen, dass Picassos Begabung die unbedingte Begabung eines Malers und Zeichners ist; er ist ein Mensch, der stets das Bedürfnis hat, sich zu verströmen, es ist notwendig, dass er stark angeregt wird, so dass er genügend aktiv sein kann, um sich vollständig zu verströmen.
So war seine Lebensweise immer.
Nach dem ersten endgültigen französischen Einfluss er wieder ganz Spanier. Sehr bald wirkte sich das spanische Temperament wieder stark in ihm aus. Er kehrte 1901 nach Spanien zurück, und das Ergebnis dieser Rückkehr war sie sogenannte blaue Periode.
Die Schwermut Spanien und die Eintönigkeit der spanischen Farben bewegten ihn nach dem Aufenthalt in Paris zutiefst.
Man darf nämlich nicht vergessen, dass Spanien anders ist als die übrigen südlichen Länder; er ist nicht bunt, alle Farben in Spanien sind weiss, schwarz, silbern oder golden; Rot oder Grün gibt es überhaupt nicht. In dieser Beziehung ist Spanien gar nicht südlich, sondern orientalisch; die Frauen tragen dort meistens Schwarz, die Erde ist trocken und von goldener Farbe, der blaue Himmel fast schwarz, auch die sternerhellten Nächte sind schwarz oder tiefdunkelblau, und die Luft ist sehr leicht, so dass alles und jedes schwarz wirkt. Trotzdem liebe ich Spanien. Alles Spanische hinterliess seinen Eindruck bei Picasso, als er in die Heimat zurückkehrte, und das Ergebnis war, wie gesagt, seine blaue Periode. Der französische Einfluss, der sich in der Toulouse-Lautrec-Periode geäussert hatte, war überwunden, und er kehrte zu seinem wahren Charakter zurück, zu seinem spanischen Charakter.
Dann kam er 1904 abermals nach Paris.
Er wohnte in Montmartre an der Rue Ravignan. Die Strasse heisst jetzt anders; doch als ich das letztemal dort war, hatte sie noch den alten Reiz, der kleine Platz war noch genauso wie damals, als ich ihn zum erstenmal sah; in einem Winkel arbeitete ein Schreiner, die Kinder waren da, das alte Ateliergebäude, in dem sie alle gehaust hatten, stand noch immer; vielleicht hat man es seither – es ist nämlich zwei oder drei Jahre her, seit ich zuletzt dort war – vielleicht hat man es seither abgerissen und ein anderes Haus an der Stelle gebaut. Es ist normal, neue Gebäude zu errichten, dennoch hat man solche Veränderungen nicht gern, und die damalige Rue Ravignan war wirklich etwas; es war eben die Rue Ravignan, und dort spielten sich viele Dinge ab, die für die Geschichte der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts Bedeutung haben.
Picasso war also nach Paris zurückgekehrt, und es war ums Jahr 1904, und er brachte die Bilder der blauen Periode mit, auch eine kleine Landschaft, die er in Barcelona gemalt hatte. In Paris begann er wieder ein wenig Franzose werden, das heisst, er wurde wieder von Frankreich verführt. Da war seine Freundschaft mit Guillaume Apollinaire, Max Jacob und Andre Salmon, die er beständig sah, und das nahm ihm abermals den spanischen Ernst, und da er wieder alles, das in ihm war, verströmen musste, verströmte er sich in der blauen Periode, in der Erneuerung des spanischen Fühlens, und als dies vorbei war, begann jene Periode, die heute die rosa Periode oder Harlekin-Periode genannt wird.
Von jeher haben die Maler den Zirkus geliebt; selbst heute, wo Kino und Nachtlokale den Zirkus abgelöst haben, gedenken sie noch gern der Clowns und Zirkusakrobaten.
Zu dieser Zeit trafen sie sich alle mindestens einmal wöchentlich im "Cirque Medrano" und dort fühlten sie sich sehr geschmeichelt, weil sie sich mit den Clowns, den Jongleuren, den Pferden und ihren Reitern befreunden konnten. Picasso wurde allmählich immer mehr Franzose, und so begann die rosa Periode oder Harlekin-Periode.
Auch darin verströmte er sich, verströmte sich in der zarten Poesie Frankreichs und in der Zirkuswelt auf gleiche Weise wie in der blauen Periode, und ich lernte ihn am Ende dieser Harlekin-Periode kennen.
Das erste Bild, das wir von ihm hatten – rosa oder harlekinisch, wie man will -, ist das junge Mädchen mit dem Blumenkorb; es wurde im grossten Augenblick der Harlekin-Periode gemalt, voller Anmut, Zartheit und Charme. Danach wurde sein Strich allmählich härter, seine Handschrift wurde fester, seine Farbe kräftiger; natürlich war er kein Knabe mehr, er war ein Mann, und dann begann er 1905 mein Porträt zu malten.
Warum er gerade zu dieser Zeit ein Modell vor sich haben wollte, weiss ich wirklich nicht; aber alles drängte ihn dazu; er war völlig ausgeschöpft von der Inspiration der Harlekin-Periode, der Spanier begann wieder in ihm lebendig zu werden; ich bin Amerikanerin, und in gewisser Weise haben Amerika und Spanien etwas gemeinsam – vielleicht sollte ich ihm aus allen diesen Gründen Modell sitzen. Wir lernten uns bei Sagot kennen, dem Kunsthändler, von dem wir das Mädchen mit dem Blumenkorb gekauft hatten. Ich sass ihm den ganzen Winter, achtzigmal, und zum Schluss übermale er den Kopf, er sagte zu mir, er könne mich nicht mehr anschauen, und dann fuhr er wieder nach Spanien. Das war erstenmal seit der blauen Periode, und gleich nach seiner Rückkehr aus Spanien malte er den Kopf, ohne mich überhaupt wiedergesehen zu haben. Er schenkte mir das Bild, und darauf war ich; ich war und bin immer noch zufrieden mit meinem Porträt; für mich bin ich es, und es ist das einzige Bild von mir, das für mich immer ich ist.
Eine sonderbare Geschichte.
Eines Tages kam ein reicher Sammler zu mir; er betrachtete das Porträt und wollte wissen, wieviel ich dafür bezahlt hätte. Nichts, rief er. Nichts, wiederholte ich, er habe es mir natürlich geschenkt. Ein paar Tage später erzählte ich dem Picasso; er lächelte, der Mann verstehe nicht, sagte er, dass damals der Unterschied zwischen einem Verkauf und einem Geschenk unwesentlich gewesen sei.
Im Jahr 1909 war Picasso abermals in Spanien, und er brachte einige Landschaften mit, die gewiss der Anfang des Kubismus waren. Diese drei Landschaften waren ausserordentlich realistisch und gleichwohl der Anfang des Kubismus, das er gemalt hatte, und es belustigte mich immer, allen, die sich gegen die Phantasie der Bilder verwahrten, die Photographien zu zeigen, so dass sie sahen, dass die Bilder fast genau wie die Photographien waren. Oscar Wilde sagte immer, die Natur kopiere nur die Kunst, und daran ist wirklich etwas Wahres, und bestimmt waren die spanischen Dörfer ebenso kubistisch wie diese Bilder.
So wurde Picasso wieder spanisch getauft.
Dann begann die lange Periode, die Max Jacob das heroische Zeitalter des Kubismus genannt hat, und es war auch ein heroisches Zeitalter. Alle Zeitalter sind heroisch, das heisst, in jedem Zeitalter gibt es Helden, die Leistungen vollbringen, weil sie nicht anders können, und weder sie noch die andern begreifen, wie und warum diese Dinge geschehen. Man versteht nicht immer, bevor sie vollständig erschaffen sind, was sich vollzieht, und man versteht überhaupt nicht, was man getan hat, bis zu dem Augenblick, wo es ganz getan ist. Picasso sagte einmal, dass derjenige, der etwas erschafft, gezwungen ist, es hässlich zu machen. Durch das Bemühen, das Grosse zu schaffen, und durch den Kampf, dieses Grosse zu schaffen, ergibt sich immer eine gewisse Hässlichkeit; die Nachfolger können daraus etwas Schönes machen, weil sie wissen, was sie tun, da es ja bereits erfunden ist; aber da der Erfinder nicht weiss, was er erfinden wird, muss das, was er macht, unweigerlich seine Hässlichkeit haben.
In dieser Periode 1908-09 hatte Picasso seine Bilder nie ausgestellt; seine Nachfolger zeigten ihre Sachen, aber er nicht. Er sagte, wenn man in eine Ausstellung ginge und sich die Bilder der andern Maler ansähe, wüsste man, dass sie schlecht sind; dafür gäbe es keine Entschuldigung, sie wären einfach schlecht; doch bei den eigenen Bildern wüsste man den Grund, warum sie schlecht sind, und deshalb wären sie nicht hoffnungslos schlecht. Zu dieser Zeit sagte er gern, und später pflegte er es zu wiederholen, es gäbe so wenige Menschen, die verstehen, und später, wenn man von allen bewundert würde, wären es immer noch die nämlichen wenigen, die verstehen, genauso wenige wie zuvor.
So kam Picasso 1909 mit seinen Landschaften aus Spanien zurück, die der Anfang des Kubismus waren. Um den Kubismus wirklich zu schaffen, hatte er noch einen weiten Weg zu gehen; doch der Anfang war gemacht.
Man kann sagen, dass der Kubismus ein einfaches Fundament hat. Erstens: Das neunzehnte Jahrhundert hatte sein Bedürfnis, ein Modell zu haben, erschöpft, weil sich die Wahrheit, dass die mit den Augen geschauten Dinge die einzig wirklichen sind, erschöpft hatte.
In Wirklichkeit ändern sich die Menschen nicht von einer Generation zu anderen; soweit wir die Geschichte kennen, waren sich die Menschen immer ungefähr gleich, sie hatten dieselben Bedürfnisse, dieselben Tugenden und Eigenschaften, dieselben Fehler; ja, nichts ändert sich von einer Generation zur anderen ausser den geschauten Dingen, und die geschauten Dinge bilden die Generation, das heisst, nichts ändert sich von einer Generation zur anderen bei den Menschen ausser der Art des Anschauens und des Angeschautwerdens, die Strassen ändern sich, und die Art, wie man durch die Strassen fährt, ändert sich; es ändern sich die Gebäude und die Einrichtungen in den Häusern; aber die Menschen ändern sich nicht von einer Generation zur anderen.   Der schöpferische Künstler ist wie alle übrigen lebenden Menschen, er ist empfindlich für die Veränderungen in der Lebensweise, und unweigerlich wird seine Kunst von der Lebensweise einer jeden Generation beeinflusst, von der Art, wie jede Generation erzogen wird und wie sie sich bewegt; all diese schafft die geistige Natur einer Generation.
In diesem Sommer las ich ein Buch von einem der Mönche der Abtei Hautecombe über einen Abt von Hautecombe; darin beschreibt er die Gründung des Klosters, und er erzählt, dass es zuerst auf einer Anhöhe in der Nähe einer stark begangenen Strasse lag. Daraufhin fragte ich alle meine französischen Freunde, was im fünfzehnten Jahrhundert eine starke begangene Strasse gewesen sei; bedeutete das, dass die Leute sie einmal am Tag oder einmal in der Woche benutzten? Mehr als das, antwortete man mir. Das Bild jener Epoche hing also davon ab, wie häufig und auf welche Weise die stark begangenen Strassen benutzt werden; die Menschen bleiben sich gleich, die Art, wie ihre Strassen benutzt werden,  ändert sich von einem Jahrhundert zum andern, und dies bewirkt das Bild, das ein jeder dieser Generation von Augen hat, und dies bewirkt das Bild, das ein Schöpferischer schafft.
Ich erinnere mich noch gut, wie ich zu Kriegsbeginn mit Picasso auf dem Boulevard Raspail stand, als der erste getarnte Lastwagen vorbeifuhr. Es war Abend, wir hatten von Tarnungen gehört, aber noch nichts dergleichen gesehen; Picasso betrachtete den Wagen staunend, und dann rief er: "Das haben wir ja gemacht, es ist Kubismus!" Tatsächlich war das Bild des Krieges 1915-18 anders als bei allen früheren Kriegen; bei diesem Bild war kein einzelner Mann in der Mitte umgeben von vielen anderen Männern,  sondern dieses Bild hatte weder einen Anfang noch ein Ende; bei diesem Bild war jede Ecke ebenso wichtig wie eine andere, ja, es war das Bild des Kubismus.
Heute beginnt wieder ein anderes Bild, jede Generation hat ihr Bild, die Menschen ändern sich nicht von einer Generation zur anderen, sondern es ändert sich das Bild rings um sie.
Nun kehrte also Picasso nach Paris zurück, nachdem die blaue Periode um 1904 in Spanien vorbei war, nachdem die rosa Periode um 1907 in Frankreich vorbei war, nachdem die Neger Periode um 1907 vorbei war, und als er 1909 zurückkehrte, hielt er den Beginn des Kubismus in der Hand. Die Zeit war gekommen.
  
Ich sagte, es hätte drei Gründe für die Entstehung des Kubismus gegeben. 
Erstens das Bild, Infolge der veränderten Lebensweise hatte sich das Bild des Lebens erweitert, und jedes Ding war ebenso wichtig wie ein anderes. 
Zweitens:  Der Glaube an das, was die Augen schauten, des heisst der Glauben an die Wirklichkeit der Naturwissenschaft begann zu schwinden. Freilich, die Wissenschaft hatte vieles entdeckt, sie sollte noch weitere Entdeckungen machen; aber das Prinzip, auf dem all dies beruhte, war durchschaut, die Freude am Entdecken war fast vorbei. 
Drittens: Den Rahmen des Lebens, die Notwendigkeit, dass ein Bild in seinem Rahmen sei und bleibe, gab es nicht mehr. 
Von jeher war ein Bild in seinem Rahmen geblieben, und nun wollten die Bilder ihren Rahmen sprengen, und auch das schuf die Notwendigkeit des Kubismus. 
Die Zeit war gekommen und der Mann. Ganz natürlich war es ein Spanier, der es gefühlt und getan hatte. Die Spanien sind wohl die einzigen Europäer, die nie das Gefühl haben, dass geschaute Dinge wirklich sind, dass die Wahrheiten der Wissenschaft Fortschritte bedingen. Die Spanier misstrauten der Wissenschaft nicht; sie haben nur das Bestehen  des Fortschritts nicht anerkannt. Während andere Europäer immer noch im neunzehnten Jahrhundert lebten, wurden Spanien wegen seines Mangels an Organisation und Amerika infolge seiner übertriebenen Organisation die natürlichen Gründer des zwanzigsten Jahrhunderts. 
Der Kubismus nahm seinen Anfang. Nach der Rückkehr aus Spanien zog Picasso wieder in die Rue Ravignan; aber es war fast das Ende der Rue Ravignan; er siedelte im gleichen Haus von einem Atelier ins andere über, und als der Kubismus wirklich festgegründet war – das ist der Augenblick des 1910 geschaffenen Bildes "Ma Jolie" –, hatte er die Rue Ravignan verlassen, und kurze Zeit später, 1912, verliess er Montmartre und kehrte nie mehr dorthin zurück. 
Nachdem er 1909 mit seinen ersten kubistischen Landschaften aus Spanien zurückgekehrt war, fing ein langer Kampf an.  
Der Kubismus begann mit Landschaften; doch unvermeidlich versuchte Picasso dann sofort seine Idee für Menschen-Darstellung zu verwenden. Picasso erste kubistische Bilder waren Landschaften und Stillleben übten auf Franzosen unweigerlich grösseren Reiz aus als auf Spanier. Juan Gris malte zwar immer Stillleben, doch für ihn war ein Stillleben keine Verlockung, sondern eine Religion; die Ekstase der geschauten Dinge, der nur geschauten, berührt die spanische Seele überhaupt nicht. 
Für Picasso gibt es bloss den Kopf, den Menschenkörper. Ich weiss noch, einmal gingen wir dahin, und da sahen wir einen Gelehrten auf einer Bank sitzen – vor dem Krieg konnte ein Gelehrter auf einer Bank sitzen –, und Picasso sagte: "Sieh dir das Gesicht an, es ist so alt wie die Welt; alle Gesichter sind so alt wie die Welt." 
Und so begann Picasso seinen langen Kampf, um Köpfe, Gesichter und Menschenkörper in dem Bild auszudrücken, welches sein Bild ist. Der Anfang dieses Kampfes war hart, und sein Kampf ist immer noch hart; die Seelen der Menschen interessieren ihn nicht, will sagen, für ihn sind Kopf, Gesicht und Körper die Wirklichkeit des Lebens, und das ist für ihn so wichtig, so zwingend, so vollständig, dass es gar nicht nötig ist, an etwas anderes zu denken, und die Seele ist etwas anderes.
Der Kampf hatte also angefangen.
Die meisten Leute hegen in Bezug auf Menschenantlitz und Menschengestalt eine vorgefasstere Ansicht als in Bezug auf Blumenstücke, Landschaften und Stillleben. Nicht alle. Ich erinnere mich an eine der ersten van Gogh-Ausstellungen; dort war eine Amerikanerin, die zu ihrer Freundin sagte: "Ich finde diese Porträts sehr interessant, weil ich nicht weiss, wie Menschen sind; aber all diese Blumenbilder gefallen mir gar nicht, weil ich recht gut weiss, wie Blumen sind."
Die meisten sind nicht so. ich will damit nicht sagen, dass sie die Menschen besser kennen als andere Dinge; aber sie hegen vom Wesen der Menschen stärkere Überzeugungen als vom Wesen anderer Dinge.
Picasso pflegte zu dieser Zeit oft zu sagen, dass die Spanier nicht imstande sind, Menschen nach ihren Photographien zu erkennen. Deshalb machten die Photographen zwei Photographien: einen Mann mit Bart und einen glatt rasierten, und wenn die Männer zum Militärdienst ausrückten, schickten sie eine dieser beiden Photographien ihren Angehörigen, und die Angehörigen fanden sie immer sehr ähnlich.
Mit allem ist es seltsam, mit Bildern ist es seltsam; ein Bild kann uns ausserordentlich seltsam erscheinen, und nach einiger Zeit kommt es uns nicht mehr seltsam vor, sondern es lässt sich sogar unmöglich feststellen, was daran überhaupt seltsam war.
Der Beginn dieses Kampfes, die Dinge auszudrücken, nur die wirklich sichtbaren Dinge, war entmutigend, sogar für seine nächsten Freunde, sogar für Guillaumes Apollinaire.
Zu dieser Zeit begann man sich für Picasso Malerei zu interessieren; sehr viele Leute waren es noch nicht, immerhin welche, und dann machte mein Porträt grossen Eindruck auf Roger Fry, einen Engländer, der es im "Burlington Magazine" reproduzieren liess. Picasso Porträt wurde neben einem Porträt von Raphael gebracht, und er ärgerte sich sehr darüber. Picasso sagte einmal mit ziemlicher Erbitterung zu mir: "Es heisst von mir, ich könne besser zeichnen als Raphael, und wahrscheinlich stimmt dass; vielleicht zeichne ich besser, aber wenn ich so gut zeichnen kann wie Raphael, habe ich zumindest das Recht, meinen Weg selbst zu wählen, und das sollte anerkannt werden, dieses Recht, doch nein, man verweigert es mir."
Ich stand damals mit meinem Verständnis für ihn allein da, vielleicht weil ich das gleiche in der Literatur ausdrückte, vielleicht weil ich Amerikanerin war, und Spanier und Amerikaner haben Verständnis, ja, wie gesagt, ein gewisses gleiches Verständnis für die Dinge.
Später folgten ihm Derain und Braque und helfen ihm; aber zu dieser Zeit blieb der Kampf für Picasso ein Kampf und für sie nicht.
Wie ich schon sagte, wurden Picassos Strich, Konstruktion und Malweise gegen Ende der Harlekin-Periode oder rosa Periode härter, und dann ging er wieder nach Spanien; den ganzen Sommer blieb er dort, und als er zurückkehrte, fing er etwas anderes an, das absoluter war, und dies führte ihn zu dem Gemälde   "Les Demoiselles d'Avignon". Er fuhr abermals nach Spanien, und bei der Rückkehr brachte  er die drei Landschaften mit, die den wirklichen Beginn des Kubismus darstellten.
In dieser Periode, als sich der Kubismus schon etwas entwickelt hatte, fiel mir auf, wie Picasso Gegenstände zusammenstellen und photographieren konnte – eine dieser Photographien haben ich aufgehoben – und wegen seiner starken Anschauung war es nicht notwendig, dass der das Bild malte. Dadurch, dass die Gegenstände zusammengebracht wurden, waren sie schon in andere Dinge verwandelt, nicht in ein anderes Bild, sondern in etwas anderes, in Dinge, wie Picasso sie sah.
Doch wie gesagt, Spanier und Amerikaner sind nicht wie Europäer, sie sind nicht wie Orientalen, sie haben etwas gemeinsam, das heisst, sie bedürfen keiner Religion und keines Mystizismus, um nicht  an die Wirklichkeit zu glauben, wie alle Welt sein kennt, nicht einmal dann, wenn sie sie sehen. In Tat und Wahrheit ist die Wirklichkeit für sie nicht wirklich, und darum gibt es Wolkenkratzer und amerikanische Literatur und spanische Malerei und Literatur.
So begann Picasso, und nach und nach entstand das Bild „Les Demoiselles d'Avignon“, und als es da war, war es zu schrecklich. Ich weiss noch, Tschoukine, der Picassos Bilder so sehr bewundert hatte, war bei mir, und sagte beinahe in Tränen:
„Welch ein Verlust für die französische Kunst!“  
Im Jahr 1906 arbeitete Picasso den ganzen Winter hindurch an meinem Porträt; er begann Figuren in fast eintönigen Farben zu malen, immer noch ein wenig rosa, doch grösstenteils in Braun; die Linien der Körper wurden härter und enthielten viel Kraft; es begann die eigene Schau. Es war wie die blaue Periode, aber viel stärker empfunden, weniger farbig und weniger sentimental. Seine Kunst begann viel reiner zu werden.
So erneuerte er seine Schau, indem er die Dinge auf seine Weise sah.  

Nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Spanien – er hatte den Sommer in Gosol verbracht – wurde er mit Matisse bekannt, durch den er die afrikanische Skulptur kennenlernte. Man darf schliesslich nie vergessen, dass die Neger-Skulptur nicht naiv ist, ganz  und gar nicht; es ist eine sehr, sehr konventionelle
Kunst, auf Überlieferung gegründet, und ihre Überlieferung stammt von der arabischen Kultur ab. Die Araber schufen so wohl die Zivilisation als auch die Kultur für die Neger, und darum war die afrikanische Kunst, die Matisse naiv und exotisch fand, für Picasso, einen Spanier, etwas Natürliches, Direktes und Zivilisiertes.
Wieder und wieder fing er nicht von neuen an, sondern er setzte nach einer Unterbrechung fort. Das ist sein Leben.
Ungefähr in dieser Periode begann sein Kontakt mit Derain und Braque, und nach und nach entstand der reine Kubismus.
Kubismus gehört in Spanien zum täglichen Leben, er ist in der spanischen Architektur, in andern Ländern folgt die Architektur immer der Linie der Landschaft; das trifft auf die italienische  und auf die französische Architektur zu; die spanische Architektur hingegen schneidet die Linien der Landschaft, und eben das ist die Grundlagen des Kubismus, das Menschenwerk ist mit der Landschaft nicht in Einklang, es steht sich ihr entgegen, und gerade das ist die Grundlagen des Kubismus, und das ist spanischer Kubismus.
In Spanien sind Natur und Mensch Gegensätze, in Frankreich stimmten sie überein, und das ist der Unterschied zwischen französischem und spanischem Kubismus, und es ist ein grundlegender Unterschied.
So ist der spanische Kubismus eine Notwendigkeit; natürlich ist er das.
Jetzt sind wir also im Jahre 1908, und wieder ist Picasso in Spanien. Er kehrte mit den Landschaften von 1909 zurück, die den Anfang des klassischen und klassifizierten Kubismus bildeten.
Diese drei Landschaften drücken genau das aus, was ich klarmachen möchte, nämlich den Gegensatz zwischen Natur und Menschen in Spanien. Das Runde ist dem Würfel entgegengesetzt; eine kleine Anzahl Häuser vermittelt den Eindruck einer grossen Häusermanne, um die Landschaft zu beherrschen:
Landschaft und Häuser stimmen nicht überein, das Runde ist dem Würfel entgegengesetzt, die Bewegung der Erde ist wider die Bewegung der Häuser, ja, die Häuser haben keine Bewegung, weil die Erde ihre Bewegung hat; natürlich sollten die Häuser keine haben.
Ich habe hier das Bild eines jungen französischen Malers vor mir; auch er schafft mit wenigen Häusern ein Dorf, aber hier bewegen sich die Häuser mit der Landschaft, mit dem Fluss, hier stimmt alles miteinander überein; es ist gar nicht spanisch.
Die Spanier wissen, dass es keine Übereinstimmung gibt, weder zwischen Landschaft und Häusern noch zwischen dem Runden und dem Würfel oder zwischen grossen und der kleinen Zahl, natürlich war es ein Spanier, der dies in der Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts ausdrücken sollte – in dem Jahrhundert, wo nicht in Übereinstimmung ist, weder das Runde mit dem Würfel noch die Landschaft mit dem Häusern noch die Grosse Menge mit der kleinen Menge. Das haben Amerika und Spanien gemeinsam; darum wurde Amerika von Spanien entdeckt und Spanien von Amerika, ja, aus diesem Grunde haben beide ihr Zeit im zwanzigsten Jahrhundert gefunden.
Picasso kehrte also nach Paris zurück, nachdem er eine Sommer in Barcelona und in Orta de Ebro verbracht hatte, und er war wieder in der Rue Ravignan; doch es war der Anfang vom Ende der Rue Ravignan; in wirklichkeit verliess er die Rue Ravignan erst 1910, aber die Rückkehr im Jahr 1909 war eigentlich das Ende der Rue Ravignan, die ihm alles gegeben hatte, was sie ihm zu geben vermochte; das war vorbei, und nun begann das glückliche Zeitalter des Kubismus.
Es ist ausserordentlich, aber wahr:  Kriege sind nur ein Mittel, die bereits fertigen Dinge der Öffentlichkeit bekannt zu machen; eine Veränderung, eine vollständige Veränderung hatte sich vollzogen; die Menschen denken nicht mehr wie zuvor, aber niemand weiss es, niemand erkennt es, niemand weiss  es wirklich ausser den Schöpferischen.  Die andern haben zu viel mit den Geschäften des Lebens zu tun; sie können nicht fühlen, was geschehen ist; der Schöpferische hingegen, der wirklich Schöpferische tut nichts; er kümmert sich nicht um die Tätigkeit des Dasein, und da er nicht aktiv ist, das heisst, da er sich um die Tätigkeit des Daseins nicht kümmert, ist er empfindsam genug, das Denken der Menschen zu verstehen; es verlangt ihn nicht danach, zu wissen, wie sie gedacht haben; sein empfindsames Fühlen befasst sich damit, zu verstehen, wie die Menschen nun leben. Das Geistige hat sich bei jedem gewandelt, die ganze Menschheit ist verändert, aber die meisten wissen es nicht, und ein Krieg zwingt sie, es zu erkennen, weil sich während eines Krieges das Aussehen von allem sehr viel schneller verändert; doch in Wirklichkeit hat sich die ganze Wandlung längst vollzogen, und der Krieg ist nur etwas, das jedem die Erkenntnis aufzwingt. Die Französische Revolution war vorbei, als der Krieg jeden zwang, sie anzuerkennen; die Amerikanischen Revolution war vor dem Krieg vorüber; der Krieg ist nur ein öffentliches Agens, das jeden erkennen lässt, was geschehen ist, ja so ist es.
Dann erkennt das Publikum also den schöpferischen Menschen an, der die vor dem Krieg vollzogene und durch den Krieg zu Ausdruck gebrachte Wandlung erkannt hat, und durch den Krieg ist die Welt gezwungen, die gesamthafte Veränderung in allem anzuerkennen; die Leute sind gezwungen, auf den schöpferischen Menschen zu blicken, der es vor allen andern gewusst und zum Ausdruck gebracht hat. Der schöpferische Mensch ist seiner Generation nicht voraus, hingegen wird ihm als erstem seiner Zeitgenossen bewusst, was sich mit seiner Generation begibt.
Ein schöpferisch Tätiger, der kein Akademiker ist, der nicht zu jenen gehört, welche in einer Schule studieren, wo die Regeln bereits bekannt und infolgedessen nicht mehr vorhanden sind, der schöpferische Mensch also, der etwas entstehen lässt, gehört unbedingt seiner Generation an. Die Vertreter seiner Generation leben auf ihre zeitgebunden Weise. Auf den Gebieten der Kunst, der Literatur und des Theaters, kurz, auf allen Gebieten, die nicht zur unmittelbaren Bequemlichkeit beitragen, leben sie in der vorigen Generation. Es ist ganz einfach; heute können sich auf den Strassen von Paris keine Droschken und Pferdewagen mehr behaupten; aber Droschken und Pferdewagen werden erst abgeschafft, wenn sie allzu viele Schwierigkeiten hervorrufen, sie werden abgeschafft, jedoch sechzig Jahre zu spät. Bei Krieg nach den Masstäben des neunzehnten Jahrhunderts beurteilten, obwohl die Mittel des Krieges aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammten, und erst als der Krieg auf dem Höhepunkt war, erfassten die Generäle, dass es ein Krieg des zwanzigsten und nicht des neunzehnten Jahrhunderts war. Das ist akademisches Denken, es ist nicht zeitgenössisch, natürlich nicht, und so kann es nicht schöpferisch sein, weil sich nur das Zeitgenössische im schöpferischen Menschen schöpferisch auswirkt. Natürlich.
Wie gesagt, im täglichen Leben ist es etwas anderes. Ein Freund baute sich ein modernes Haus und schlug Picasso vor, sich doch ebenfalls ein modernes Haus zu bauen. Aber natürlich sagte Picasso: „Nein, ich will ein altes Haus. Stell dir vor“, sagte er, „hätte sich Michelangelo wohl gefreut, wenn man ihm ein schönes Renaissance-Möbelstück geschenkt hätte? Ganz und gar nicht. Er wäre natürlich erfreut gewesen, wenn man ihm ein schönes griechisches Intaglio geschenkt hätte.“
So wurden also die Zeitgenossen durch den Krieg gezwungen, den Kubismus anzuerkennen, den Kubismus, wie Picasso ihn erschaffen hatte, der eine Wirklichkeit sah, die nicht der Anschauung des neunzehnten Jahrhunderts entsprach; es war nicht etwas Geschaute, sondern etwas Empfundenes, das sich nicht auf die Natur stützte; es war der Natur entgegengesetzt, wie die Häuser in Spanien der Landschaft entgegengesetzt sind, wie das Runde dem Würfelförmigen entgegengesetzt ist. Jeder wurde durch den Krieg gezwungen, der verständlich machte, dass sich die Dinge geändert hatten und nicht gleichgeblieben waren, sie wurden alle gezwungen, Picasso anzuerkennen. 
Periode des reinen Kubismus, das heisst von 1914 bis 1917. 
Gertrude Stein
"Picasso"
Mit Photos
Dokumenten
Die Arche Zürich
Quellen:
Die Bilder entstammen dem Werk von Roland Penrose "Picasso und seine 
Zeit", Verlag der Arche, Zürich; Picasso "Wort und Bekenntnis" 
[Gesammelte Schriften]
Verlag der Arche, Zürich; Elizabeth Sprigge "Gertrude Stein", 
Verlag Hamish Hamilton, London.

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