Eindrücke und Erfahrungen
In 22 Tagen von Helsinki nach Peking mit dem Frauen-Friedenszug der
IFFF WILPF = Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit. Vom Kongress in Helsinki zum Forum der NGO´s in Huairou / Peking
Es war eine schöne, interessante, erlebnisreiche Reise, von der niemand genau sagen konnte, ob sie gelingen und wie sie verlaufen würde.
Im Telegrammstil die Vorgeschichte:
Die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) veranstaltete vom 1. bis 6. August 95 in Helsinki einen internationalen Kongress. Etwa 5500 Frauen aus aller Welt. Feierten das 60jährige bestehen der Liga, sprachen über die geleistete und zukünftige Arbeit und natürlich über die Situation der Frauen.
Die Erinnerung an den Gründungskongress 1915 in Den Haag, an die davon ausgehenden Reisen der Teilnehmerinnen zu den Regierungen der kriegführenden und einiger neutraler Staaten. Von denen sie die Beendigung, 1995 wieder über die Grenzen in die kriegführenden Regionen Süd bis nach Peking zu fahren.
Es gibt wieder Kriege in Europa, Kriege die vor allem Frauen und Kindern grosses Elend bringen. Überall versuchen Frauen, sich zu wehren; aber ihre Zahl ist zu gering, die Kräfte sind zu schwach, um viel zu bewirken. Wenn wir unsere Anliegen ernst meinen, müssen wir sie unterstützen, ermutigen.
So entstand der Plan mit dem Frauenfriedenszug nach Peking, mit Aufenthalten in den Hauptstädten der vom Krieg besonders betroffenen Länder. Dort trafen wir uns mit Frauen, die in kleinen Gruppen und als Einzelne versuchen, sich einer wahrhaft mörderischen Entwicklung entgegenzustemmen.
Mitten im ersten Weltkrieg
Leningrad ist wieder Petersburg geworden
Die Gegensätze sind unübersehbar. Die Architektur der Innenstadt (dem Touristenteil) ist grossartig und schön wie eh und jäh. Aber die Menschen! Es war nicht Einbildung aus Voreingenommenheit. Unsere russische Busbegleiterin hatte auf eine Frage nach den neuen Zeiten gesagt: „sehen sie in die Gesichter der Menschen auf der Strasse, dann ahnen Sie, wie wir leben...Es gibt mehr Waren, aber wer hat schon Geld…“
Von uns bunten Frauen nahm kaum jemand Notiz, trotz Tüchern. Transparenten, Winken aus dem Busfenster.
Aber am Smolny-Kloster werden wir beachtet, wie alle Touristen, die dort anhalten.
Junge Burschen bieten nachdrücklich alles Mögliche an: Postkarten, Schmuck, Gürte, Abzeichen, Kunsthandwerk, Fellmützen, Uhren. Eine alte Frau im Rollstuhl hält uns gestickte Blumenpostkarten entgegen. „kaufen Sie, kaufen Sie, bitte…“
Diese Bilder werden uns bis Alma Ata begegnen: Bettelnde, nein bittende, meist alte Frauen mit zitternden Händen uns gelb-grauen Gesichtern vor Magazinen und „Shops“; streunende Kinder mit uralten Gesichtern; auf dem Gehsteig, auf Taschen oder Bündeln liegende Menschen. Hätten sie Geld, sie könnten Milka-Schokolade, Pepsicola, Sprite, Miranda oder Debeular-Keks kaufen.
Von Leningrad bis Peking: „Unser“ Plunder an allen Ecken, / bekannte Schnaps und Zigarettenmarken im vordersten Regal. In Woronesch fallen uns Plakate zum 50. Jahrestag des Sieges über die deutschen Faschisten auf gezeichnete Hakenkreuze auf Marmor mit den lateinischen Buchstaben „Nazi Kids“.
Aber hier in Leningrad sind wir erst einmal in einem schönen, alten Fürstenhaus, im „Haus der Freundschaft und des Friedens“ zu Gast, das die Frauengruppen für ihre Treffen und Veranstaltungen nutzen. Wir treffen dort die „Soldatenmütter“, die nach Tschetschenien gefahren sind, um ihre Söhne aus dem Krieg zu holen. Sie sind sich nicht einig über das Recht Tschetscheniens auf staatliche Selbständigkeit, aber einig im Widerstand gegen diesen barbarischen Krieg, der ihre Kinder zu Mördern und Opfern macht.
Es gibt gute und schlechte Veränderungen, erfahren wir von Frauen, die in kleinen Gruppen als Unternehmerinnen z.B. arbeitlosen Frauen Heimarbeit verschaffen, Handarbeiten oder Lebensmittel herstellen. Als Wissenschaftlerinnen Frauen ohne Geld oder mit Kindern helfen, um ihr Studium durchzuziehen. Sie haben Kontakte zu ausländischen Institutionen, die sie unterstützen.
Die grössten Probleme sind die Ausbildung von Frauen und Mädchen, die jetzt viel Geld kostet und die Hilfe für Arbeitslose, Alte und Kranke. Es gibt keine öffentlichen Gelder. „Mit Fünfzig sterben die Frauen den sozialen Tod… Alte und Kinder sitzen alleingelassen in den Wohnungen, ausgeliefert der Gewalt, der Trunksucht… Ferieneinrichtungen, Tagesstätten gibt es nicht mehr oder kosten sehr viel Geld…70% der Arbeitslosen sind Frauen… die Arbeitslosigkeit steigt… Monatslohn zwischen 50 und 100 Dollar im Monat. Eine 30 Quadratmeter Wohnung kostet etwa 80 Dollar…“
Zum Ausgleich sehen wir auch Autos wie Mercedes 300 und andere Modelle, die von hunderttausend Dollars aufwärts kosten (Auch schon mal mit deutschen Kennzeichnen) und Leute, denen es nichts ausmacht, an einem Abend etliche Monatsgehälter einer Universitätsprofessorin für Schnick - Schnack auszugeben.
Nach diesen „Lektionen“ – (vor allem manche Amerikanerinnen fanden das Gehörte „shocking“) –nach einer Nacht im Hotel, richteten wir uns in unserem Zug ein. Er ist nagelneu aus einem deutschen ehemaligen VEB-Wagonbau-Werk an die russische Staatsbahn geliefert. Zum ersten Mal auf dieser einmaligen Strecke im Einsatz mit Einmaligen Reisenden nämlich uns, 235 Frauen und 13 Männern aus 42 Ländern.
Er wird uns in den nächsten drei Wochen zur Heimat, behaglich eingerichtet und geschmückt mit all unseren bunten Tüchern, Transparenten, Plakaten.
Die Zeit geht wie im Fluge mit Meetings, Gesprächen, Diskussionen im grossen oder kleineren Kreis, mit Singen, Handarbeiten am Patchwork-Teppich, Tanzen und Feiern bei Geburtstagen und sogar Hochzeitsfeier nämlich die eine Sudanesischen paar.
In Kiev, Bukarest, Sofia, Istanbul, Odessa und Alma Ata erwarten uns immer Frauengruppen.Schon am Bahnhof werden die ersten Kontakte geknüpft, Adressen getauscht. Es geht weiter mit Meetings, Workshops, Gesprächen zwischendurch, Besichtigungen. Wir empfangen Herzlichkeit und Freundschaft, hören von Hoffnungen und Problemen, sehen Bemerkenswertes und sicher Unglaubliches.
Wir sind als erste ausländische Gruppe Gäste im Ukrainischen Parlament, bestaunen eher mit Entsetzen den Ceausescu-Palast in Bukarest, verzehren aber trotzdem in einer seiner Marmorhallen ein Gala-Büffett, -im Hinterkopf die Bilder verkommener Strassen und Wohnblocks und hungrige Kinder am Bahnhof.
Wir hören von den Frauen in Sofia, wie man ihr Land an ausländische Gesellschaften verhökert und wie das Justizwesen erfolglos versucht, die ungeheure, ständig noch anwachsende Kriminalität zu bekämpfen. Das Land ist zur Drehscheibe aller Sparten des Verbrechens geworden aufgrund seiner geographischen Lage: inmitten der Balkanregion: Waffenhandel, Urkundenfälschung, Finanzbetrug, Geldwäsche, Korruption, Drogenhandel, Umrüstung und Verkauf gestohlener Autos, Kunstdiebstahl und -handel, Prostitution-, Frauenhandel, Gewalt und Mord, -alles in grossen Stil in Verbindung mit Mafia –Strukturen aus aller Welt. Angst vor Strafe hat niemand; Polizei und Justiz sind schwach, korrupt, demoralisiert.
Zwei Frauen von der Gruppe der „Frauen in Schwarz für einen Tag“ aus Belgrad nach Sofia gekommen, erzählen, wie ihr Land leidet und zerfällt, obwohl kein normaler Einwohner diesen Krieg wollte, aber es hat keinerlei Verhandlungen gegeben. Eine der „Frauen in Schwarz“ aus Belgrad:
(1991 empfanden wir erst nur Horror und Schock; dann begannen wir, öffentlich zu zeigen, dass der Horror sofort aufhören muss. Wir haben ein SOS-Notttelefon für Frauen und Kinder eingerichtet; wir machen Workshops, geben Hilfe in Gesprächen und konkret; wir versuchen, die Frauen stark zu machen gegen sexuelle Übergriffe.)
sie erzählen vom geschaffenen Hass, von denen, die daran ungeheuer reich werden und den Krieg am Leben erhalten und von immer mehr Frauen, die versuchen, dem Wahnsinn ein Ende zu setzen. Wir haben Nottelefone, Selbsthilfe Gruppen, Kindesbetreuung “Aber wir sind noch viel zu wenige…“
Später erholen wir uns bei Liedern und Tänzen einer Bulgarischen
Laien-Volkskunstgruppe und fahren am nächsten Tag in bussen nach Istanbul.
In Istanbul treffen wir Frauen, die geduldig und unermüdlich versuchen, unter schwierigen politische Bedingungen, ohne öffentlichen Unterstützung ein Netzwerk von Hilfen für Frauen zu schaffen, die Opfer „gesellschaftlicher“ oder „häuslicher“ Gewalt werden. Sie machen eine Frauenzeitung, betreuen eine von der Stadt geförderte Frauenbibliothek, helfen jungen Frauen aus entlegenen Regionen, sich in dem Grossstadt-Moloch Istanbul zurechtzufinden. Viele dieser Frauen haben türkische Gefängnisse als politische Gefangene kennengelernt, wurden geschlagen, „…aber jetzt ist es viel schlimmer als vor 10 Jahren, jetzt ist die Folter systematisch…“ haben sie keine Angst? Wir haben nicht gefragt.
Mit Bussen zurück in die Ukraine, zum Zug. In Odessa erwartet uns ein grosser Empfang am Bahnhof, eine Militärkapelle (die Melodien kenne ich doch?). Die Diskussionen gehen um Abrüstung, ethnische Gruppen, soziale Probleme. Letztere scheinen unüberwindbar; alle 120 ethnische Gruppen sind davon betroffen. Der Ossetien-Konflikt wurde am runden Tisch gelöst; mit Moldawien muss es auch so laufen, ohne Krieg. 22% des Nationaleinkommens frisst die Armee, das ist viel zu viel. Wir rüsten weiterab, heisst es, aber wir haben kein Geld, die Atomwaffen unschädlich zu machen. Mehr als 50% der Bevölkerung sind Frauen; sie und die Kinder leiden am meisten, (wie überall, wo wir waren!).
Zuletzt besuchen wir ein Ferienlager für Schulkinder, das von einem noch arbeitenden Fischkombi und der Gewerkschaft erhalten und finanziell unterstützt wird. Die Kinder gestalten ein kleines Programm und beweisen uns offen und stolz ihre Englischkenntnisse.
Endlich, nach einer Fahrt durch den trockensten Teil Kasachstans – keine Baumwolle –und Weizenfelder gesehen, nur ganz selten verrottete Reste von Bewässerungssystemen –(oder haben wir nachts schlafend was versäumt?) – Wir erreichen endlich Alma-Ata, die Stadt unseres letzten Aufenthalts vor Peking und damals noch Hauptstadt Kasachstans.
Die Schilderungen der Frauen über die verheerenden Auswirkungen der Atombombentests im Gebiet Semipalatinsk bestärken uns noch in unseren Forderungen an die Regierungen Frankreichs und Chinas, mit ihren wahnsinnigen Tests aufzuhören.
Wir sprechen mit Frauen der Universität, die seit Monaten kein Geld mehr bekommen und besuchen die Gruppe der hungerstreikenden Frauen und Männer, die damit gegen die Auflösung des gerade gewählten Parlaments durch Nasarbajew protestieren.
(Von westlichen Protesten gegen diesen Machtakt eines „Demokraten“ haben wir nichts gehört).
An einem herrlichen Vormittag verlassen wir das schöne Alma Ata mit seiner imponierenden Bergkulisse u. erreichen nach vier Tagen u. drei Nächten Peking.
Unsere Route ist die der jahrhundertealten „Seidenstrasse“ am Rande der Gobi, über den Gelben Fluss in die grünen Gefilde der Ebene, in der Peking liegt. Im Norden von Gebirgen eingerahmt, über deren Höhen sich lange Strecken der „Grossen Chinesischen Mauer“ ziehen.
Es folgen Tage in Peking mit seinen Palästen und Parks, seinen alten Strassenmärkten und kleinen Restaurants, die keinen Löffel und keine Gabel besitzen, aber köstliche Speisen auftischen.
Es folgen die Tage in Huairou beim Forum der NGOs. Was haben wir von unserer langen Reise mitgebracht?
Manuskript aus der IFFF Arbeitsgruppe 1996
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